Zeidler-Nachfolger Enrico Maassen hat in der Ostschweiz schnell Fuss gefasst. Der 40-jährige Deutsche redet bei blue Sport über seinen Aufstieg im Fussball, sein Aus in Augsburg und was er mit St. Gallen vorhat.
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
- blue Sport trifft Enrico Maassen in St. Gallen zum persönlichen Gespräch.
- Der Deutsche redet über seine Anfänge, Toni Kroos und die Ziele mit den Ostschweizern.
Wer die Langweile hasst, der muss den Kybunpark mögen. Das galt unter Peter Zeidler, und es gilt auch heute. Die Mannschaft spielt einen Offensivfussball mit Hang zum Dramatischen – und das nicht selten erfolgreich. 10 Punkte nach 5 Spielen in der Liga und die Qualifikation für die Conference League sind der jüngste Beweis.
Nur hat sich etwas Markantes geändert. Es tigert nicht mehr Peter Zeidler unablässig der Seitenlinie entlang. Nun steht Enrico Maassen da, fast schon das Gegenstück. Ruhig und abgeklärt coacht er sein Team, selbst im feindseligen Breslau, wo Goalie Zigi rassistisch verunglimpft wird. Oder im hitzigen Trabzon, wo sich die Espen in die Ligaphase zittern.
Wie schafft er das? «Ich weiss, dass es nichts bringt, rumzuschreien und alle nervös zu machen. Aber ich kann sehr emotional sein und aus dem Sattel gehen», sagt Maassen. Bloss gabs in St. Gallen bislang wenig Gründe dafür.
Aufgewachsen ist «Enno», wie ihn alle nennen, in der alten DDR, geboren 1984 in Wismar, der Hauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern. Die Eltern arbeiten bei der Bahn. Zwei jüngere Schwestern gehören auch zur Familie. Erinnerungen ans Leben im Osten hat er kaum, schliesslich ist er erst fünf Jahre alt, als die Mauer im November 1989 fällt. Eines aber betont er: «Ich hatte eine tolle Kindheit.» Das hat vor allem damit zu tun, dass ein Schulfreund ihn motiviert, seinem Fussballverein beizutreten. Seither brennt das Feuer. «Fussball ist neben der Familie und Freunden meine grosse Leidenschaft», sagt Maassen. Platz für andere Hobbys? Gibt’s kaum.
Training mit Toni Kroos
Als Spieler reichts zwar nur für Vereine wie Hansa Rostock II, den Greifswalder SV oder Verl. Immerhin aber kreuzt sich sein Weg mit dem blutjungen Toni Kroos. Der stammt aus der Region und darf als Teenie bereits mit der Zweiten von Hansa trainieren. «Dass er was kann, war da schon klar», sagt Maassen.
Mit 30 ist für ihn Schluss als Spieler. Binnen eines Jahres reisst er zweimal das Innen- und einmal das Kreuzband. Die Karriere endet beim damaligen westdeutschen Fünftligisten Drochtersen/Assel. Der ist gerade auf Trainersuche und denkt an Maassen. Der ist ehrgeizig und spielintelligent. Und er ist diplomierter Sporttherapeut und ausgebildeter Sport- und Fitnesskaufmann. Maassen greift zu. «Danach habe ich meine bisherigen Mitspieler gefragt, ob es auch für sie ok sei, wenn ich ihr Trainer werde.» Ja, es ist ok.
Es beginnen Jahre des Ausprobierens – und der Schufterei. Zur Not klebt er den Spielern eigenhändig die Tapes an die Knöchel. Hauptberuflich ist er leitender Angestellter eines Fitnessstudios. Ein Tag damals? «5:30 Uhr aufstehen. Um 7:00 ins Studio. Um 18:00 aufs Trainingsgelände. Um 23:00 wieder daheim.» In die Zeit fällt zudem die Geburt seines Sohnes Matteo.
Der Weg führt steil nach oben: Aufstieg in die Regionalliga, der Wechsel nach Rödinghausen, wo er 2018 erstmals hauptberuflich Trainer sein darf, vielbeachtete Cupauftritte – unter anderem gegen den FC Bayern, der nur 1:2 verloren geht. Maassen wird bald zu Höherem berufen.
Mit Watzke per Du
Die Borussia aus Dortmund ruft, wo er lernt, sich in einem Weltklub zu bewegen. Das heisst auch, selbstbewusst genug sein, dass man nicht übersehen wird. Aber auch mit der gebotenen Bescheidenheit auftreten, dass man nicht überall aneckt. Mit Boss Hans-Joachim Watzke ist er rasch per Du. Und er trainiert Talente wie Antonios Papadopoulos, den heutigen Lugano-Verteidiger – mit Erfolg. Die Borussia steigt in die 3. Liga auf und hält sich da souverän. Als Lucien Favre Ende 2020 gehen muss, ist auch Maassen als Nachfolger im Gespräch. Edin Terzić aber erhält den Vorzug.
Eineinhalb Jahre später jedoch ist Maassen da, wo er hinwill: in der Bundesliga. Doch die Lage in Augsburg ist gefährlich. Der Investor zieht sich zurück, der Langzeit-Sportchef Stefan Reuter rückt ins zweite Glied, und im Team kommts zum grossen Umbruch. Im ersten Jahr hält Maassen mit einer jungen Truppe die Klasse, in der zweiten wird ihm ein Fehlstart zum Verhängnis. «Trotzdem war's eine sehr gute Zeit», sagt er. Im Umfeld wird Maassen einzig vorgeworfen, dass er von seinem Kurs abgewichen sei und «contre coeur» defensiver habe spielen lassen. Er selbst streitet das nicht ab.
Familie per Facetime
Danach wird sein Name bei vielen Klubs medial gehandelt, in Bochum etwa, wo nun Zeidler trainiert. Oder in Nürnberg. Der FC St. Gallen überzeugt ihn – nicht zuletzt die Chefs: Präsident Matthias Hüppi und Sportchef Roger Stilz. Aber auch der Kybunpark begeistert ihn. «Die Stimmung ist sehr imposant. Was hier abgeht, steht der Bundesliga in nichts nach.»
Von der Stadt selber hat er noch nicht viel gesehen. Zu viel war beruflich los. Kürzlich hat er eine Wohnung am Rorschacherberg bezogen. Und immerhin hat die Zeit gereicht, dass Maassen sein Faible für St. Galler Bratwurst erkannt hat. «Von denen hatte ich schon viele – aber man muss ja ein bisschen auf die Linie achten», sagt er. Dabei nimmt man ihm den Fitnesstrainer noch heute ab.
Seine Familie lebt weiterhin in Augsburg, wo sein bald achtjähriger Sohn Matteo zur Schule geht. Mit ihm und seiner dreijährigen Schwester Lilly plaudert er jeden Abend per Facetime. «Eine grossartige Erfindung», so Maassen. Und wenn es passt, nimmt er die zweieinhalb Autostunden nach Augsburg unter die Räder.
Ausser seiner Familie vermisst er in St. Gallen nichts. Und wenigstens lindert der gute Start den Trennungsschmerz. «Die Mannschaft ist uns mit einer grossen Offenheit begegnet», sagt Maassen. Das half. Verbesserungspunkte sieht er, der grosser Fan der argentinischen Trainerlegende Marcelo Bielsa ist, aber noch einige. Nicht zuletzt: den Ballbesitz verbessern und die Standards. Platz vier und der Cupfinal hat sich der Klub zum Ziel gesetzt. Durchaus anspruchsvoll. «Ich bin ein ambitionierter Mensch», sagt Maassen bestimmt.
An seinen Nerven werden die St. Galler Ziele wohl nicht scheitern.
Di 24.09. 20:15 - 22:50 ∙ blue Sport Live ∙ FC St.Gallen 1879 - FC Zürich
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