Australien wird erstmals in der WM-Geschichte in der Vorrunde scheitern. Nach dem 6:40 gegen Wales am Sonntagabend steht das ganze Rugby «Down Under» unter Druck. Aber vor allem Coach Eddie Jones.
Eddie Jones hat als Trainer schon einiges gesehen. Der 63-Jährige führte Australien 2003 und England 2019 in den WM-Final. 2007 war er Teil des Trainerstabs, als Südafrika den Titel holte. Auch für Japans Nationalteam war er erfolgreich tätig.
Aber am Sonntagabend in Lyon mochte Jones kaum mehr hinsehen. Eine Stunde lange hatte er von hoch oben auf der Tribüne, wo ein Teil des Staffs im Rugby jeweils Platz nimmt, das Geschehen mit der stoischen Ruhe mitverfolgt, die in diesem Sport von den Coaches erwartet wird. Dann fing ihn die TV-Kamera aber immer wieder mit gefalteten Händen vor dem Gesicht ein. Ungläubig blickte er in den Schlussminuten aufs Feld.
Er sah wie sein junges Team von Wales demontiert wurde und selbst nichts zustande brachte. Die einfachsten Aktionen misslangen, Bälle rutschten durch die Hände, Kicks schafften es nicht bis ins Seitenaus. «Absurd» nannte die australische Zeitung «The Age» die Leistung in ihrem Liveblog. Es sei der Tag, an dem das australische Rugby hochkant gescheitert sei.
Weil es «Down Under» erst kurz vor 7.00 Uhr war, als die wahrscheinlich peinlichste Niederlage der «Wallabies» besiegelt war, blieb in der Heimat noch reichlich Zeit, um über Grundsätzliches zu reden und über Jones selber, der sich nach dem Match für die Leistung entschuldigte und versicherte: «Ich übernehme die volle Verantwortung.»
Noch ist das Scheitern in der Vorrunde nicht offiziell. In der Theorie könnte Fidschi mit mindestens eine Niederlage gegen Georgien oder Portugal noch hinter den Australiern zurückfallen. Aber glauben tut daran niemand. Es wäre ein Wunder.
Tiefpunkt vor der Heim-WM
Bis vor einer guten Woche hatte Australien, Weltmeister 1991 und 1999, von 36 WM-Gruppenspielen nur drei verloren. Nun gab es gleich zwei «zerstörerische» Niederlagen, wie sie der «Sydney Morning Herald» nannte. Zuerst am vorletzten Wochenende die erste gegen Fidschi seit 69 Jahren und nun also am Sonntagabend das 6:40 gegen Wales – die höchste Niederlage der «Wallabies» in ihrer WM-Geschichte.
Dass diese Pleite zustande kam, obwohl es um das sportliche Überleben bei dieser WM ging, macht sie noch bedeutungsvoller. Dass in vier Jahren die WM in Australien stattfindet, lässt «The Age» sagen, dass sie nicht zu einem schlimmeren Zeitpunkt hätte kommen können.
Das australische Rugby ist angeschlagen, so sehr, dass selbst aus dem Land des grossen Rivalen Neuseeland mahnende Worte an die eigenen Fans kommen: Man solle sich nicht zu sehr über das Scheitern freuen, schliesslich brauche man ein starkes Australien für das Rugby in der Region.
Seit einer Weile schon befindet sich das australische Rugby in der Krise. Es muss mit der grossen Konkurrenz in der Heimat leben, in erster Linie vom sehr beliebten Australian Football, der speziell ausserhalb der Eliteschulen besser rekrutiert. So erklären sich einige Experten, wieso es an Qualität in der Nationalmannschaft fehlt. An der WM wurde ein Umbruch versucht: Kein anderer Teilnehmer stellte ein jüngeres Team.
Jones, der erst im Januar die Nachfolge von Dave Rennie angetreten hatte, sortierte gestandene Spieler aus und setzte dafür auf junge, auf diesem Niveau unerfahrene Akteure. Das Experiment ist gescheitert, auch wenn der Coach davon spricht, die Jungen würden an dieser Erfahrung in Frankreich wachsen.
«Es riecht nach Blut»
Ob es nun überhaupt mit Jonas weitergeht ist trotz eines Anfang Jahres unterschriebenen Fünfjahresvertrages fraglich. Der Sohn eines Australiers und einer Japanerin spürt den Gegenwind schon seit mehreren Wochen. Vor dem Match gegen Wales sagte er an der Medienkonferenz: «Es hat zehnmal mehr Leute als normalerweise – es riecht nach Blut.»
Die Kritiker von Jones haben Witterung aufgenommen. Nach der Rekordniederlage am Sonntagabend wurde der Trainer damit konfrontiert, dass er bereits Ende August Verhandlungen mit Japans Nationalteam geführt haben soll. Der nicht im WM-Team berücksichtigte 34-jährige Routinier Bernard Foley meinte in einem Tweet vielsagend: «Es hätte nicht so kommen müssen.»
Angesichts der Stimmung gleicht der letzte WM-Match gegen Portugal am kommenden Wochenende einer Strafaufgabe. «Wir werden versuchen, ein wenig Respekt zurückzugewinnen», blickte der 108 kg schwere Dave Porecki mit feuchten Augen auf die kommende Aufgabe.