Ariella Kaeslin «Das Tempo aus dem Alltag rausnehmen, tut für einmal gut»

SDA

5.4.2020 - 20:30

Vor elf Jahren wird Ariella Kaeslin an den Kunstturn-Europameisterschaften in Mailand mit Bronze im Mehrkampf und Gold am Sprung zur Wegbereiterin einer «goldenen» Generation des Turnverbands.

Die Sportwelt steht aufgrund der Coronavirus-Pandemie still, vor gut einer Woche stellte das Bundesamt für Sport (BASPO) in den nationalen Trainingszentren in Magglingen (NSM) und Tenero den Betrieb ein. Ein Jahrzehnt lang war das NSM auch der Lebensmittelpunkt von Ariella Kaeslin, ehe sie 2011 nach einer Erschöpfungsdepression ihre erfolgreiche Karriere als Kunstturnerin beendete.

«Wir witzelten damals immer: Es kann passieren, was will. Die Welt kann untergehen, aber die Turnhalle bleibt offen», sagt Kaeslin heute mit einem Lachen. Weder ein Brand in der Jubiläumshalle noch grosse Schneemassen auf dem Dach, das einzustürzen drohte, hätten für einen Trainingsunterbruch gesorgt. Ein Jahrzehnt später zwingt nun das Coronavirus die Kunstturner in die Knie. Die Europameisterschaften sind auf unbestimmte Zeit verlegt, die Olympischen Spiele um ein Jahr verschoben.

Auch auf Kaeslins heutigen Beruf als angehende Physiotherapeutin hat die Pandemie grosse Auswirkungen. Ihr Arbeitsumfang als Praktikantin in einer Klinik ist reduziert, behandelt werden nur noch «Notfallpatienten und solche, die nicht zu den Risikogruppen gehören», so die 32-Jährige. Knie- und Hüftprothesen dürften nicht mehr operiert werden.

Auch sportlich tritt Kaeslin, die Sportwissenschaften und Psychologie studiert hat, momentan etwas kürzer. Radtouren alleine oder mit ihrem Partner liegen noch drin, Schwimm- oder Crossfit-Trainings hingegen nicht. Auch auf Wettkämpfe muss sie verzichten, als letzten Event bestritt sie Ende Februar den Vasalauf in Schweden. Ausdauersportarten wie Langlauf, Mountainbike oder Triathlon haben es Kaeslin angetan. «Es ist die Suche nach den eigenen Grenzen – aber ohne Ambitionen und nur zum Plausch.»

Der Beginn einer goldenen Ära

Kaeslins Karriere als Spitzensportlerin war nicht nur durch Freude geprägt, wie sie in ihrer 2015 erschienenen Biografie «Leiden im Licht» offenbarte. Ihr Triumph am ersten April-Wochenende 2009 in Mailand war neben der Belohnung für die jahrelange Arbeit vor allem auch eine Erleichterung. «Vor dem Sprung-Final war ich extrem nervös», erinnert sich die dreifache Sportlerin des Jahres zurück. «Und nach dem Sieg fiel mir eine Riesenlast von den Schultern.»

Die Erfolge Kaeslins in Mailand, dem europäischen Epizentrum der Corona-Krise, waren der Auftakt zu einem Jahrzehnt, das dem STV viel Ruhm und Ehre brachte. Kaeslin selbst gewann im Herbst 2009 in London WM-Silber am Sprung und 2011 in Berlin noch einmal EM-Bronze, ehe Giulia Steingruber in ihre Fussstapfen trat. Neun EM-Medaillen, fünf davon in Gold, sowie Olympia- und WM-Bronze am Sprung zieren das Palmarès der Ostschweizerin.

In Steingrubers Schatten wuchs bei den Männern eine Mannschaft heran, die auf europäischem Parkett für Furore sorgte. Neun EM-Medaillen gewann das Team von Nationaltrainer Bernhard Fluck seit 2013. Die Höhepunkte waren die EM-Titel am Reck von Pablo Brägger (2017) und Oliver Hegi (2018) sowie die bronzene Auszeichnung mit dem Team an den Heim-EM 2016 in Bern.

Kaeslin sieht sich aber nicht als Wegbereiterin für ihre Nachfolger. «Ob Giulia, Pablo oder Oli, sie alle mussten ihren eigenen Weg gehen und sich die Erfolge hart erarbeiten», sagt die Luzernerin. Sie hoffe aber, dass sie zumindest im Umfeld etwas habe bewirken können. Vor ihrer Ära stand im STV zur Debatte, das Nationalteam der Frauen aufzulösen, an der Absetzung des höchst umstrittenen Trainers Eric Demay 2007 hatte Kaeslin massgeblichen Anteil. «Der Verband hat daraus die Lehren gezogen und vieles professionalisiert.»

Die Krise als Chance

Heute stehen der STV und seine Athleten vor einer externen Herausforderung. Die Verschiebung der Olympischen Spiele bringt die Planung innerhalb des Vierjahreszyklus komplett durcheinander, die fehlenden Trainingsmöglichkeiten und die Ungewissheit, wann es wieder losgeht, sind eine «Challenge», wie Kaeslin sagt. «Das Niveau ein Jahr lang zu halten, ist unmöglich.» Bereits nach zwei Wochen ohne Training an den Geräten brauche man wieder drei Monate, bis man für einen Wettkampf bereit sei.

Die Pandemie ist für alle eine Prüfung – ob Spitzen- oder Hobbysportler, Berufstätige oder Privatpersonen. So schlimm die Krise aber auch sei, sie biete auch Chancen, glaubt Kaeslin. «Das Tempo aus dem Alltag rausnehmen, tut für einmal gut.» Man könne auch zu Hause etwas machen und müsse nicht immer gleich in die Stadt rennen, so die 32-Jährige. «Es findet definitiv eine Entschleunigung statt.»

SDA

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