Bilanz Gammenthaler: «Dürfen stolz sein auf die Radgenossen – aber das sind eher Eintagsfliegen»

Luca Betschart

15.6.2021

Gino Mäder sorgte an der Tour de Suisse 2021 für Furore.
Gino Mäder sorgte an der Tour de Suisse 2021 für Furore.
Bild: Keystone

Drei Heimsiege in acht Etappen – die diesjährige Tour de Suisse macht aus Schweizer Sicht Lust auf mehr. Vor der anstehenden, prestigeträchtigen Tour de France zieht «blue Sport» zieht mit Rad-Experte Gammenthaler Bilanz.

Luca Betschart

Am Sonntag geht eine aufregende Tour de Suisse 2021 mit einem Schweizer Paukenschlag zu Ende. Gino Mäder setzt sich im Endspurt in Andermatt offenbar spielend gegen den auf dem Papier stärker einzuschätzenden Michael Woods durch. Ohne aus dem Sattel zu gehen, sorgt er damit für den aus Schweizer Sicht perfekten Tour-Abschluss. «Das zeigt seine Renn-Intelligenz. Gegen einen Weltklasse-Sprinter fährt er im Sattel an ihm vorbei. Exzellent», schwärmt auch Rad-Experte Henri Gammenthaler.

Ohnehin liefern die «Radgenossen» in der vergangenen Woche viel Grund zur Freude. Vor Mäder können bereits Stefan Bissegger und Stefan Küng Etappensiege einfahren. Küng fährt sogar für zwei Tage im Leadertrikot. «Küng hat auf die Zähne gebissen. Dass er bei den Pässen noch so gut mitkam – natürlich hat es ihn am Ende aufgestellt –, aber als Zeitfahrer ist er über sich hinausgewachsen», lobt Gammenthaler.

Von Mäder zeigt sich der Rad-Experte aber am meisten beeindruckt: «Gino hat gezeigt, dass er die grosse Schweizer Hoffnung in Sachen Rundfahrten ist. Er kann am Berg fahren, er kann Zeitfahren und er kann unglaublich leiden – das hat man am Sonntag erneut gesehen.»



Fehlende Unterstützung für Hirschi?

Als 27. des Gesamtklassements ist der 24-Jährige der beste der 19 gestarteten Schweizer. Und doch ist der Rückstand von 21:21 Minuten beträchtlich. «Ausser Mäder gibt es momentan keinen anderen Schweizer mit Potenzial als Rundfahrten-Spezialist. Wir können stolz sein auf die jungen, wilden Radgenosse – aber das sind eher Eintagsfliegen. Die haben die Routine noch nicht, eine Rundfahrt optimal einzuteilen», erklärt Gammenthaler den Zeitverlust.

Henri Gammenthaler
Bild: zVg

Henri Gammenthaler analysiert das Radsport-Geschehen für «blue Sport». Der Zürcher war einst selbst Fahrer, später TV- und Radio-Experte und Kommentator der Tour de Suisse.

Ganz anders die starke Konkurrenz, wie beispielsweise das Team Inneos um Tour-de-Suisse-Sieger Carapaz: «Carapaz gewinnt seine vierte Rundfahrt! Und sein hochbezahltes Team steht komplett hinter ihm. Sie haben bereits angekündigt, auch die Tour de France für ihn gewinnen zu wollen.»

Rückendeckung, von der beispielsweise Marc Hirschi derzeit nur träumen kann. Gammenthaler sieht auch in der fehlenden Unterstützung der Team-Kollegen den Grund für das schlussendlich eher enttäuschende Abschneiden des grossen Aufsteigers 2020. «Rui Costa, dreifacher Tour-de-Suisse-Sieger, hat für ihn keinen Tritt gemacht. Der hätte auch die nötige Routine gehabt, um Hirschi taktisch zu helfen. Aber er hat alles gemacht, damit Hirschi nicht reüssiert. Das ist nicht schön.»

Gammenthaler: «Wir können stolz sein»

Alleine könne man keine Tour für sich entscheiden. «Das ist unmöglich. Du brauchst deine Helfer und das ist auch die Sache des sportlichen Leiters. Aber in dieser Mannschaft ist keine gute Ambiance», ist Gammenthaler überzeugt. Deshalb sei auch schwierig zu sehen, in welcher Verfassung sich Hirschi in der Tat befinde. «Die Saison 2020 war für Hirschi ein echtes Radsport-Wunder. Jetzt ist er ein wenig eine Wundertüte im Moment.» Der 22-Jährige müsse den Kopf wieder freibekommen, glaubt Gammenthaler. Unter dem Strich aber sei klar: «Unsere nationale Rad-Elite und wie sie der Konkurrenz im Moment um die Ohren fährt, das lässt sich sehen.»

Nichtsdestotrotz dürfte es für die Schweizer Aushängeschilder an der Tour de France, die bereits in 11 Tagen startet, schwierig werden, an die jüngsten Erfolge anzuknüpfen. Für Mäder oder Hirschi – wenn dieser von der Leine gelassen wird – sieht Gammenthaler einen Etappensieg im Bereich des Möglichen. Die grössten Hoffnungen ruhen aber auf Stefan Küng, der im Zeitfahren zum Tour-Auftakt zu den Favoriten zählt.