Japan erkämpft sich im Rugby einen Platz am Tisch der Grossen und steht erstmals im WM-Viertelfinal. Trotz des Heimvorteils ist dieser Aufstieg einmalig und unerwartet.
Eine halbe Stunde nach dem entscheidenden Sieg gegen Schottland hat kaum einer der über 67'000 Fans das Yokohama International Stadium verlassen. Aus den Lautsprechern dröhnt der J-Pop-Hit «Rising Sun». Die Spieler verbeugen sich – ganz der japanischen Tradition entsprechend – auf allen Seiten der Arena vor dem Publikum. Die «Brave Blossoms» (tapfere Kirschblüten) haben mit der ursprünglichen Randsportart Rugby Millionen Fans erobert – umso mehr, als Japan nur einen Tag nach dem verheerenden Taifun Hagibis mit über 50 Todesopfern eine gute Nachricht brauchen konnte.
«Heute ging es nicht ums Können», erklärte Japans Coach Jamie Joseph nach dem Sieg. «Es ging um Emotionen und Einsatz. Jeder gab 150 Prozent. Wir wollten für all die Leute spielen, die Angehörige oder ihr Haus verloren haben.» Josephs emotionaler Ausbruch in allen Ehren, aber ohne die riesigen spielerischen Fortschritte der japanischen Spieler hätten alle Emotionen nichts genützt.
Diese Fortschritte gleichen aus zwei Gründen einem kleinen Wunder: wegen der festgefahrenen Hierarchien im Welt-Rugby mit riesigen Unterschieden zwischen den einzelnen Teams. Und wegen der japanischen Gesellschaft. Japan hat zwar an jeder der bislang neun Weltmeisterschaften teilgenommen. Dies liegt jedoch an der Schwäche der Konkurrenz in Asien.
WM-Vergabe an Japan als Initialzündung
An der WM 1995 in Südafrika gab es gegen Neuseeland ein 17:145, 2007 in Frankreich gegen Australien ein 3:91. Dennoch vergab der internationale Rugby-Verband im Juli 2009 die WM 2019 an Japan, erstmals sollten sie in einem Land ausserhalb des Kerngebiets, der so genannten Tier-1-Nationen, stattfinden. Der Entscheid erweist sich als voller Erfolg, trotz der Spielabsagen wegen des Taifuns.
Bereits an der WM 2015 schlug Japan mit Südafrika sensationell erstmals einen Tier-1-Gegner, schied aber trotz drei Siegen in vier Vorrundenspielen als Gruppendritter aus. Der Erfolg löste dennoch eine eigentliche Euphorie aus. Natürlich brauchte Japan auf dem Weg in die Spitzengruppe aber viel fremde Hilfe.
8 der 15 Spieler in der Startformation beim Sieg am Sonntag gegen Schottland sind im Ausland geboren (3 in Neuseeland, 2 in Südafrika, je 1 in Samoa, Australien und Südkorea). Das ist bemerkenswert, denn Japan ist im Gegensatz zu den USA oder der Schweiz alles andere als ein Land der Einwanderer und Secondos. Über 98 Prozent sind ethnische Japaner, kein anderes modernes Industrieland hat eine derart homogene Bevölkerungsstruktur. Vor allem in konservativen Kreisen herrscht auch eine latente Fremdenfeindlichkeit, nicht zuletzt Andersfarbigen gegenüber. Dabei wäre das Land aufgrund der extrem hohen Lebenserwartung und der tiefen Geburtenrate dringend auf Einwanderung angewiesen.
Der Sport verändert Japan
Für einmal scheint aber der Sport tatsächlich in der Lage, die Welt – oder zumindest Japan – zu verändern. Den Preis für den besten Spieler der Partie vom Sonntag, Kenki Fukuoka, überreichte der Tennisstar Naomi Osaka. Auch die Tochter einer Japanerin und eines Haitianers, deren Haut dünkler ist als die des Durchschnitts-Japaners, musste sich die Herzen der breiten Öffentlichkeit erst erobern. Doch bei der jüngeren Generation sind Mischehen und Einwanderer kein Tabu mehr.
Auch die «Brave Blossoms» begeistern trotz des fremden Backgrounds mittlerweile die breite Masse. Ein Muster-Beispiel ist der letzte Woche 31-jährig gewordene Captain Michael Leitch. Der in Neuseeland geborene Rückraumspieler reiste im Alter von 15 Jahren für ein High-School-Jahr nach Sapporo – und war von der neuen Kultur so fasziniert, dass er in Tokio studierte und danach in Japan blieb. Oder Coach Jamie Joseph. Der Maori aus Neuseeland spielte zunächst 20 Länderspiele für die «All Blacks», ehe er 1995 nach Fukuoka übersiedelte und am Ende seiner Spielerkarriere auch noch neunmal für Japan auflief.
Dazu muss man wissen, dass es im Rugby im Gegensatz zu den meisten anderen Sportarten keinen Pass des Landes braucht, das man repräsentieren will. Drei Jahre da gelebt zu haben, reicht schon. Diese laxe Regelung gefällt naturgemäss nicht allen. Japan aber hat sie den Weg nach oben geebnet, mittlerweile boomt der Sport aber auch unter den Jungen im Land selber.
Ob dieser Boom auch nach der Heim-WM anhält, wird sich zeigen müssen. Ein Problem für die Zukunft: Gegen wen spielen die Japaner zwischen den alle vier Jahre stattfindenden Weltmeisterschaften? Die sechs europäischen Topteams haben das «Six-Nations-Turnier», die vier besten Mannschaften der Süd-Halbkugel die «Rugby Championship». Im Vorfeld der WM kamen die Japaner zu hochkarätigen Testspielen gegen Tier-1-Nationen. Eddie Jones, aktueller Nationalcoach Englands und von 2012 bis 2015 Cheftrainer der Japaner, erinnert sich: «Vor der WM 2015 wollte kein Tier-1-Team gegen uns antreten. Wir spielten gegen Rumänien oder Georgien. Dass sie nun gegen Neuseeland und ähnliche Kaliber spielen, zeigt, wie weit sie es gebracht haben.»
Die unmittelbare Zukunft heisst aber WM-Viertelfinal in Chofu. Gegen das Südafrika, das den Aufstieg Japans vor vier Jahren in Brighton mit seiner Niederlage so richtig lancierte. Den letzten Test vor der WM verlor Japan am 6. September in Kumagaya übrigens ausgerechnet gegen Südafrika, 7:41. Die «Springboks» tun allerdings gut daran, am Sonntag mit mehr Widerstand zu rechnen. Immerhin spielen die tapferen Blüten für eine ganze Nation, um das Umwelt-Desaster wenigstens etwas vergessen zu lassen. Die Sonne soll noch weiter steigen.