Drama-Situationen (4) Da hält sich die Originalität von «Harry Potter» in Grenzen

Von Fabian Tschamper

13.3.2021

Jedes Buch, jede Serie, jeder Film, einfach jede Geschichte, die jemals geschrieben wurde, folgt laut dem französischen Schriftsteller Georges Polti 36 Mustern. Bis heute trifft dies zu. Hier ist Teil vier der 36 dramatischen Situationen.

Von Fabian Tschamper

Georges Polti verfasste 1895 eine detaillierte Liste von 36 Grundplots, die alle Geschichten der Menschheit abdecken. Sein Buch erschien 1916 auf Englisch und wird bis zum heutigen Tag gedruckt. Unzählige Schreiber*innen, Autor*innen, Geschichtenerzähler*innen brauchen dieses Stück Literatur, um in ihren Branchen voranzukommen.

Als Beispiele werden klassische wie auch moderne Geschichten genannt. Einen kurzen Überblick verschafft Ihnen obige Bildergalerie. Die ersten Teile finden Sie rechts.

19
Mord an einem unbekannten Verwandten

Figuren:

  • ein Mörder
  • ein unbekanntes Opfer

Grundsätzlich ist diese Situation wieder ähnlich zu jener bei Punkt 18. Ödipus trifft auch hier zu, da er unwissentlich seinen eigenen Vater ermordet hat. Allerdings lässt sich auch der Film «The Killing of a Sacred Deer» lose auf dieses Motiv anwenden. Dort ist die Lage allerdings noch verzwickter als bei Ödipus.

Der Film mit Colin Farrell und Nicole Kidman handelt hauptsächlich von der Beziehung zwischen Steven (Farrell) und Martin (Barry Keoghan). Steven, der als Chirurg arbeitet, verlor Martins Vater bei einer Herzoperation. Zu Recht fühlt er sich schuldig, denn damals war er alkoholsüchtig und während des Eingriffs angetrunken. Steven ist für den Teenager Martin ein Ersatzvater geworden und besucht ihn und seine Familie regelmässig. Wie sich aber herausstellt, hegt Martin einen Groll gegen Steven und geht so weit, dass er dessen Familie verflucht. Seine Frau Anna (Kidman) und seine Kinder Bob und Kim werden daraufhin nacheinander plötzlich querschnittgelähmt, verweigern die Nahrung und sehen so dem langsamen Tod entgegen. Martin stellt Steven also ein Ultimatum: Töte ein Familienmitglied und die anderen werden leben. Dies aus Rache für den Tod seines Vaters. Steven willigt ein, allerdings ohne zu wissen, wen er tötet.

20
Selbstaufopferung für ein Ideal

Figuren:

  • ein Held
  • ein Ziel
  • ein möglichst grosses Opfer

Es ist der klassische Märtyrertod. Ein Held erreicht sein Ziel, in dem er sich opfert. Hierbei sind Held und Opfer meist dieselbe Figur, manchmal kann das Opfer auch eine dritte Instanz sein. Geschichtlich vollzog Sokrates diese Aufopferung. Der Grieche wurde angeklagt, die Athener Jugend verdorben zu haben. Er dementierte diesen Vorwurf und verzichtete darauf, zu fliehen. So trank Sokrates ein Gift und starb für seine Überzeugung.

Und woran erinnert dieses Motiv noch? An Grenouille aus Patrick Süskinds «Das Parfüm» und natürlich an die gleichnamige Verfilmung des Romans. Der Protagonist versucht mit Hilfe von Gerüchen, die Bedeutung von zwischenmenschlichen Beziehungen zu eruieren. Mit seinem phänomenalen Geruchssinn ausgestattet, extrahiert er jegliche Gerüche für seine Parfüms – was ihn schliesslich zum Mörder macht. Er opfert sich selbst, seine Existenz, für dieses eine Ziel: Das perfekte Parfüm herzustellen.

21
Selbstaufopferung für die Angehörigen

Figuren:

  • ein Held
  • ein Ziel
  • ein möglichst grosses Opfer

Die Figuren sind der vorhergehenden Situation gleich, daher ähneln sich auch die darum gesponnenen Geschichten. Immerhin sind die Beispiele fantastisch: Einerseits haben wir hier Katniss (Jennifer Lawrence), die sich den «Hunger Games» stellt, um ihre Lieben zu schützen. Sie wissen schon, die berühmte Szene, als sie sich freiwillig meldet: «I volunteer as tribute» und so weiter.

In «Harry Potter» hat es gleich mehrere Figuren, die sich aus Loyalität und für die gemeinsame Sache opfern. Zum Beispiel gibt es da Severus Snape oder auch Dumbledore, der sein Leben zum Schutze Harrys gibt.

22
Opferung aus Leidenschaft

Figuren:

  • ein Liebhaber
  • eine Person/ein Objekt der Leidenschaft
  • ein Opfer, Person oder Objekt

Ein Liebhaber opfert etwas für eine Person oder ein Objekt der Leidenschaft, was zum ewigen Verlust von letzterem führt. Eine herzzerreissende Geschichte ist das, egal wie man sie dreht: Es ist der Tod aufgrund von Liebe, so abstrakt dies auch klingen mag.

Einer der wohl berühmtesten Selbstmorde wegen enttäuschter Liebe dürfte in «Die Leiden des jungen Werther» stattgefunden haben. Im Roman von Goethe berichtet der Rechtspraktikant Werther von seiner unglücklichen Liebesbeziehung zu der verheirateten Lotte, bis er sich das Leben nimmt.

Neu aufgelegt wurde diese Situation vor nicht allzu langer Zeit mit der Serie «13 Reasons Why». Eine haarsträubende Geschichte über eine junge Schülerin, die sich vermeintlich das Leben genommen hat – sie war ein Mobbingopfer und hat ihrem Leiden ein Ende gesetzt. Das Stichwort hier ist vermeintlich, denn dieser Selbstmord war inszeniert.

23
Notwendigkeit, geliebte Menschen zu opfern

Figuren:

  • ein Held
  • eine geliebte Person
  • ein notwendiges Opfer

Hierbei muss der Held eine geliebte Person opfern, weil es notwendig ist. Diese Notwendigkeit entsteht oftmals aufgrund des Einwirkens einer weiteren Figur. Das biblische Beispiel hierfür ist Abraham. Gott befiehlt ihm, zum Beweis seiner Ergebenheit den einzigen Sohn, Isaak, zu opfern. Abraham ist bereit dazu, wird aber glücklicherweise von einem Engel daran gehindert.

Vor allem die alten Chinesen und Römer fanden dieses Motiv sehr faszinierend. Ihre Sagen und Legenden strotzen geradezu von ebendiesen Gewissensentscheidungen. Generäle schicken ihre Söhne für die gute Sache in den sicheren Tod oder riskieren ihren ewigen Hass. Dies, weil eine Entscheidung getroffen werden muss, die weder akzeptiert noch verstanden wird. Das Leid ist dabei besonders gross, da sich der Betroffene nicht erklären kann – oder darf.

24
Konkurrenzkampf zwischen Ungleichen

Figuren:

  • ein überlegener Rivale
  • ein unterlegener Rivale
  • ein Objekt der Rivalität

Das Beispiel für diesen ungleichen Konkurrenzkampf liegt auf der Hand und wurde gar zum gängigen Sprichwort in unserer Gesellschaft: David gegen Goliath – wird im Sport oft verwendet, auch in der Historik. In der Fiktion hören wir hierbei allerdings nur vom Underdog, der den übermächtigen Gegner platt macht.

Und weil wir den Sport schon angeschnitten haben, kommt die Veranschaulichung auch gleich vom grössten Film-Boxer aller Zeiten: Rocky Balboa (Sylvester Stallone). Er steht in «Rocky III» dem muskelbepackten (und grösseren) Clubber (Mr. T) gegenüber. Rocky erkämpft sich gegen ihn den Titel zurück und beweist, dass er noch immer der grösste Boxer der damaligen Zeit ist.

Dies war Teil vier einer sechsteiligen Serie über die verschiedenen dramaturgischen Situationen, die jeder Geschichte seit Anbeginn der Menschheit zugrundeliegen. Teil fünf folgt heute in einer Woche.