TV-Tipp Leben im Warschauer Ghetto: «Ich schreibe, damit nicht vergessen wird»

tsch

15.1.2019

1940 gründete der jüdische Historiker Emanuel Ringelblum im Warschauer Ghetto ein geheimes Archiv. Die Doku erzählt seine unglaubliche Geschichte.

Auf den ersten Blick sieht das, was übriggeblieben ist, geradezu lächerlich aus: ein paar Kartons und zwei ramponierte Versorgungsmilchkannen. In ihnen wurden all die Dokumente bewahrt, öffentliche und private, die Zeugnis geben vom Leben im Warschauer Ghetto nach der Besetzung durch die Deutschen: Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, Zeitungsausschnitte und Plakate. Ursprünglich sollte der Film der amerikanischen Dokumentaristin Roberta Grossman «Who will write our history?» – zu Deutsch «Wer wird unsere Geschichte schreiben?» – heissen. Es ist diese Frage, die sich der jüdische Historiker Emanuel Ringelblum und seine Mitarbeiter im besetzten Ghetto von Warschau 1940 stellten. Ihre eigene Geschichte wollten sie nicht der Propaganda der Deutschen überlassen.

Der hochspannende Dokumentarfilm, der jetzt auf Deutsch etwas sperrig «Das Geheimarchiv im Warschauer Ghetto» heisst, erzählt Ringelblums Geschichte aus der Perspektive der Journalistin und Kritikerin Rachel Auerbach. Auerbach ist eines von drei Mitgliedern des von Ringelblum gegründeten Archivs «Oneg Shabbat» («Freude am Sabbat»), die Ghetto und Deportation überlebte (sie starb 1976).

Suppenküche als Tarnung

«Ich schreibe, damit nicht vergessen wird», sagt sie zu Beginn, in einem Zug sitzend, der den Zügen ins Verderben gleicht. Nach der Besetzung wurden jüdische Bürger erniedrigt, aus Ämtern und «arischen» Firmen entlassen. Fortan galten Juden in der deutschen Propaganda als Bedrohung. Man müsse mit der Abriegelung des inzwischen durch jüdische Flüchtlinge überfüllten Viertels die Deutschen schützen, so hiess es. Emanuel Ringelblum, der Historiker, organisierte dann eine Suppenküche, die gegen den enormen Hunger half, aber auch als Tarnung für die etwa 60 Mitarbeiter des Archivs diente.

Man traf sich immer am Samstag heimlich. Schon das Sammeln der Fotos, Postkarten, Briefe und Tagebuchseiten war gefährlich. Wurde man entdeckt, bedeutete das den Tod. Auch Ringelblum und seine Familie überlebten Warschau nicht, obwohl sie ein mutiger polnischer Gärtner spät noch in einem Bunker unter einem Gewächshaus ausserhalb des Ghettos versteckte.

Doch die Sorge, Tausende Aufzeichnungen könnten mit ihm verloren sein, bewahrheitete sich glücklicherweise nicht: Im September 1946 wurde nach aufwendigen Recherchen durch Hersh Wasser, einen der drei Überlebenden und Ringelblums Sekretär, ein Grossteil des geheimen Archivs wiederentdeckt – all die aufgeschriebenen schrecklichen Ängste und Sorgen, aber auch die konkreten Hinweise auf die Vernichtungslager, die Ringelblum früh erreichten.

Nazi-Propaganda enthüllt sich selbst

Das alles wird im Film ohne falsches Pathos erzählt, nur an wenigen Stellen greifen Historiker kommentierend aus dem Heute ein. Als die später gerettete Rachel Auerbach – sie emigrierte später nach Israel und nahm als Zeugin auch am Eichmann-Prozess teil – im Ghetto die verlassenen Gegenstände der Verschleppten betrachtet, hört sie das «lautlose Weinen» der Dinge. Gut, dass es im Film auch die vielen propagandistischen Filmdokumente der Nazis gibt. Zwischen allen erklärenden Off-Kommentaren sind sie, sich selbst enlarvend, noch immer beeindruckend in ihrer dokumentarischen Schärfe.

Nach der Ausstrahlung bei Arte im Rahmen des Themenabends «Gegen das Vergessen» läuft «Das Geheimarchiv im Warschauer Ghetto» am Dienstag, 22. Januar, 22.45 Uhr, auch im Ersten Deutschen Fernsehen. Zum internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar sind von Australien über Nepal bis in die USA an mehr als 200 Orten weltweit öffentliche Vorführungen auf grosser Leinwand geplant.

«Das Geheimarchiv im Warschauer Ghetto» läuft am Dienstag, 15. Januar, um 20.15 Uhr auf Arte. Mit Swisscom TV Replay können Sie die Sendung bis zu sieben Tage nach der Ausstrahlung anschauen.

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