Scharfseher Outing bei SRF-Selfie-«DOK»: «Wissen deine Fans, dass du schwul bist?»

Lukas Rüttimann

1.2.2019

«Generation Selfie» befasste sich mit dem Social Media-Wahn der Jugendlichen. Der «DOK»-Film überzeugte mit einer Qualität, die man auf Instagram selten findet: Tiefgang.

Es gibt gewisse Indikatoren, dass man nicht mehr zu den Jungen und/oder Coolen gehört. Zum Beispiel, wenn man beim Blick auf die Top Ten der Hitparade keinen einzigen Song mehr kennt (und auch kein Interesse daran hat, daran etwas zu ändern). Oder wenn man den Kopf schütteln muss, wenn sich eine 16-Jährige mit Lifestyle-Tattoos, blonden Haar-Extensions und gemachter Nase ihre Lippen aufspritzen lassen will – was sie dank der Unterschrift ihrer Eltern dann tatsächlich auch tut.

So zu sehen gestern in «DOK – Generation Selfie». Die erwähnte Protagonistin, Michelle Weller, ist eine von drei jungen Personen, deren Selbstoptimierungswahn auf Social Media im Mittelpunkt der SRF-Reportage stand. Man sieht Michelle, den 17-jährigen Younes und die 21-jährige Chiara primär mit dem Handy hantieren – beim Posieren, beim Filmen, beim Photshoppen. Es gebe ihm ein gutes Gefühl, wenn die Leute sich für ihn interessieren, erklärt Younes im Film seine Like-Sucht. Doch warum peppt er seine Bilder mit Schönmacher-Apps auf? Antwort: «Auf Instagram ist alles perfekt, jeder sieht perfekt aus».

Hartnäckiges Nachfragen

Neu ist das alles nicht. Der Selfie-Wahn der Kids ist hinlänglich bekannt, der Begriff «Influencer» ist längst vom Hipster-Merkmal zum Schimpfwort verkommen. Was diese SRF-Repo aber wertvoll machte, ist ihr Tiefgang. Filmemacherich Vanessa Nikisch (bekannt vom Lokalsender Tele Züri) begnügte sich nicht damit, die Jugendlichen möglichst selbstentlarvend vorzuführen. Sie fragte auch hartnäckig nach. So gab sie sich etwa bei der Ursachenforschung für Younes’ Narzissmus nicht mit Allgemeinplätzen zufrieden.

Klar, als dickliches Kind wurde er gemobbt; und ja, sein Selbstbewusstsein ist als Folge davon nicht sonderlich ausgeprägt. Doch erst zuhause, im Gespräch mit der Mutter, wird im Film klar, dass die Like-Sucht des Migros-Lehrlings wahrscheinlich mit der unglücklichen Familiensituation zusammenhängt. Und bei einem Treffen mit Dutzenden von kreischenden Mädchen fragt Nikisch den 17-Jährigen geradeaus ins Gesicht: «Du bist ja der totale Mädchenschwarm – wissen deine Fans, dass du schwul bist?» Die verdatterte Reaktion («Darüber möchte ich jetzt nicht reden, das ist privat») ist nur einer von vielen eindrücklichen Momenten in «Generation Selfie».

Tiefgang und Tränen

Auch das Treffen von Michelle Weller mit frisch aufgespritzten Lippen und ihrer Familie verläuft hochspannend, weil der Teenager plötzlich in Tränen ausbricht, nachdem sich Mutter und Grossvater schockiert darüber zeigen, dass sie nun jeden Monat zur Nachbehandlung gehen muss.

Die Frage, warum die Mutter die Erlaubnis zum Eingriff überhaupt gegeben hat, lässt denn auch nicht auf sich warten. «Sie hätte es ja sowieso gemacht, auch ohne Einwilligung», lautet die Erklärung. Und der Grossvater fügt an, Michelle sei ein hübsches Mädchen, sie habe das nicht nötig. Doch Younes, Michelle und Chiara können nicht mehr sein ohne Bestätigung für ihre Selbstoptimierung. «Auf Instagram bin ich selbstbewusst, sonst nicht», sagt Chiara.

Frage ohne Antwort

Was aber, wenn die Likes irgendwann weg bleiben? Das fragte Nikisch den inzwischen 18-jährigen Star-Influencer Younes ganz zum Schluss, an einem Fantreffen im Glattzentrum. Die Antwort geht im Gekreische der Mädchen unter. Gleichzeitig dürfte so manch einem Zuschauer klar geworden sein, dass er definitiv auch nicht mehr zu den Jungen und/oder Coolen gehört.

«DOK – Generation Selfie» lief am Donnerstag, 31. Januar, um 20.05 Uhr auf SRF 1. Mit Swisscom TV Replay können Sie die Sendung bis zu sieben Tage nach der Ausstrahlung anschauen.

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