Novak Djokovic und Rafael Nadal beziehen beim Saisonfinale ungewöhnliche Niederlagen. Die Herausforderer rücken näher und dürfen mehr denn je auf eine neue Ära hoffen.
Zum letzten Mal endete das Tennis-Jahr am Sonntag in London. Die 17'500 Zuschauer fassende O2-Arena bot in seinen letzten acht Tagen als Heimstätte der ATP Finals einen ungewohnten Anblick. Vor fast leeren Rängen wurde die letzte Austragung durchgeführt, nachdem zuvor elf Jahre lang an gleicher Stätte das Saisonfinale in meist ausverkauftem Haus richtiggehend zelebriert worden war. Rein sportlich verlief die Dernière so wie die letzten paar Turniere: Sie brachte einen einigermassen überraschenden Sieger hervor: Daniil Medwedew folgte auf Grigor Dimitrov, Alexander Zverev und Stefanos Tsitsipas.
Die ATP Finals haben sich also als ungeeignet für die Vorhersage künftiger Kräfteverhältnisse herausgestellt, schliesslich warten alle Vorgänger von Medwedew noch auf einen Grand-Slam-Sieg. Während beim Saisonfinale letztmals 2015 einer aus den Big 3, aus dem Trio Federer/Djokovic/Nadal, triumphiert hat, ist ihre Dominanz bei den Majors nahezu ungebrochen geblieben. Trotzdem spricht einiges dafür, dass mit dem Umzug der ATP Finals von London nach Turin auch ein Umbruch einhergeht.
Es sind nicht nur die nackten Resultate, die zeigen, dass der Druck auf Djokovic, Nadal und Federer zunimmt. Mehr noch sind es die Einstellung und die mentale Stärke der Herausforderer, die aufhorchen lassen. Als beste Beispiele dienen die beiden Halbfinals in London. Dominic Thiem lag im entscheidenden Tiebreak gegen Djokovic 0:4 zurück, bevor er die Wende einleitete. Medwedew musste die Niederlage gegen Nadal im zweiten Satz bei Aufschlag des Spaniers abwenden, ehe er zum Sieg stürmte. Die späteren Finalisten glaubten auch dann noch an ihre Chancen, als die Situation fast aussichtslos schien. Die Zeiten, als Nadal, Djokovic und Federer nur schon durch ihre Präsenz einen Vorteil hatten, ist vorbei.
Thiems aussergewöhnliche Bilanz
«Ich denke, es ist super für das Tennis. Wir beginnen, uns zurechtzufinden», meinte Medwedew. «Wir haben bewiesen, dass wir die Legenden schlagen und auch die grossen Turniere gewinnen können», ergänzte Thiem, der mit dem Erfolg beim diesjährigen US Open als Einziger den Big 3 in den letzten vier Jahren einen Grand-Slam-Titel wegschnappen konnte. Medwedew und Thiem haben in London sowohl Djokovic als auch Nadal im selben Turnier geschlagen. Dies alleine ist schon ein Kunststück.
Aber auch über die letzten beiden Saisons gesehen, ist die Bilanz der wohl ersten zwei Herausforderer gegen die «Legenden» beeindruckend. Thiem hat in den Direktbegegnungen sogar die Oberhand gewonnen. Der Österreicher steht über die letzten zwei Jahre gesehen bei 9:3 Siegen gegen Djokovic, Nadal und Federer. Dass er zwei der drei Niederlagen in Grand-Slam-Finals (2019 beim French Open gegen Nadal und 2020 beim Australian Open gegen Djokovic) kassiert hat, trübt die gute Bilanz. Umso wichtiger war die Demonstration im Halbfinal gegen Djokovic: Thiem hat gezeigt, dass er auch gegen die Allerbesten zulegen kann, wenn es besonders zählt. Eine Fähigkeit, die man gar nicht hoch genug schätzen kann im Tennis.
Kein schlechtes Jahr der Big 3
«Das nächste Jahr wird wichtig sein», blickte Nadal voraus. «Meine Motivation ist intakt. Ich hoffe, ich werde bereit sein, für das zu kämpfen, was mit wichtig ist». Der 34-jährige Spanier ist sich im Klaren, dass die Zeit gegen ihn läuft. Früher oder später wird er sich genauso wie der 33-jährige Djokovic und erst recht der 39-jährige Federer auch bei den grössten Turnieren der jüngeren Konkurrenz beugen müssen. Das Trio widerstand bislang fast allen Angriffen. Selbst in diesem Jahr lief vieles in seinem Sinne.
Djokovic gewann im Januar das Australian Open und beendete die Saison zum sechsten Mal als Nummer 1 der Welt, Nadal siegte beim French Open und schloss mit seinem 20. Grand-Slam-Titel zu Federer auf. Der Schweizer seinerseits wird sich sagen, dass er angesichts seiner monatelangen Absenz glimpflich davongekommen ist – speziell in der Weltrangliste, in der er dank den aussergewöhnlichen Situation wegen des Coronavirus den 5. Platz belegt. Er spielte nur ein Turnier (Halbfinal beim Australian Open), und hätte er seine Punkte aus dem Vorjahr nicht behalten, wäre er nicht mehr unter den besten 50 und damit in einer unangenehmen Position im Hinblick auf seine ersten Turniere im kommenden Jahr.
Zurück zur StartseiteZurück zum Sport