Märchenstunde im Sprechzimmer Deshalb wird beim Arzt so oft geflunkert

dpa

24.1.2019

Raus mit der Sprache: Dem Arzt nicht die (ganze) Wahrheit zu erzählen, macht keinen Sinn. 
Raus mit der Sprache: Dem Arzt nicht die (ganze) Wahrheit zu erzählen, macht keinen Sinn. 
Bild: iStock

Viele Patienten nehmen es während des Arztgesprächs nicht immer so genau mit der Wahrheit. An dieser Situation sind die Mediziner nicht ganz unschuldig, wie eine Studie aus den USA zeigt.  

Angst vor Verurteilungen oder Belehrungen, Scham und Ablehnung der ärztlichen Empfehlungen: Das sind einer US-Studie zufolge die häufigsten Gründe, warum Patienten beim Arzt die Unwahrheit sagen. 60 bis 80 Prozent der Befragten haben gemäss der im Fachblatt «Jama Network Open» veröffentlichten Erhebung schon mindestens einmal im Behandlungszimmer geflunkert – eine bemerkenswert hohe Zahl angesichts der Tatsache, dass es um ihre Gesundheit geht und das Zurückhalten von Informationen ernste Folgen haben könnte.

Doch Stefan Wilm überraschen diese Ergebnisse nicht: «Je nach Methodik der Studie hätte man auch auf hundert Prozent kommen können», kommentiert der Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum im deutschen Düsseldorf. Die Frage sei vielmehr, warum man sich im Sprechzimmer anders verhalten sollte als im übrigen Leben: «Es ist eher erstaunlich, dass wir beim Arzt wie bei der katholischen Beichte die Wahrheit sagen sollen.» Eine derartige Annahme offenbare eine eher bevormundende Haltung von Ärzten – für Wilm ein «Grundübel».

Patienten ernst nehmen

Bis vor einiger Zeit sei Medizin-Studenten beigebracht worden, sie müssten Patienten besonders raffiniert befragen, um die Wahrheit aufzudecken: «Wenn ein Arzt aber in der Lage ist, vertrauensvoll, offen und empathisch zu kommunizieren, dann braucht es das nicht.» Entsprechend wichtig sei die Patientenzentriertheit in der Arzt-Patient-Kommunikation.

Ähnlich sieht das auch Claudia Spies, Chefärztin der anästhesiologischen Klinik an der Charité Berlin. Sie spricht lieber von der «Patienten-Arzt-Beziehung»: «Wir müssen Patienten als Partner ernst nehmen und respektieren», betont sie. Zu diesem Respekt gehöre auch, dass Patienten selbst entscheiden können, welche Informationen sie teilen und welche nicht.

Tatsächlich hatte die Studie der Forscher um Andrea Gurmankin Levy vom Middlesex Community College in Middletown ergeben, dass Patienten beispielsweise verschweigen, wenn sie Nahrungsergänzungsmittel nehmen oder die Unwahrheit sagen, wenn es um ihre Sport- und Ernährungsgewohnheiten geht. «In unserer durch Social Media geprägten Zeit spielen Bewertungen eine grosse Rolle», sagt Spies dazu: Jeder wolle sich positiv darstellen.

Angst vor Verboten

Das sei insbesondere bei Menschen der Fall, von denen wir abhängig seien, ergänzt Lothar Schäffner aus Hannover. Der Wissenschaftler hat sich intensiv mit der Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten beschäftigt und sieht verschiedene Gründe für das gelegentliche Flunkern von Patienten: «Wird man nach einem schädlichen Verhalten gefragt, scheut man sich davor, die Verantwortung für die eigene Krankheit auf das eigene Verhalten zu übernehmen.» Beträfen diese Fragen Suchtmittel wie etwa Alkohol oder Nikotin schwinge zudem die Angst mit, eine derartige Gewohnheit verboten zu bekommen. Ein dritter Aspekt: «Wir wollen uns das Wohlwollen der Ärzte sichern, indem wir sagen, dass uns ihre Kunst geholfen hat.»

Schäffner plädiert dafür, dass Ärzte für das Patientengespräch Methoden moderner Mitarbeiterführung benutzen und dabei ihre Verantwortung als Führungskraft wahrnehmen: «Führungskräfte leben allerdings nicht von Anweisungen, sondern davon, dass sie ihre Mitarbeiter überzeugen.» Dazu gehöre auch die Schaffung einer entsprechenden Atmosphäre: «Mit heruntergelassener Hose vor dem Schreibtisch zu stehen, hinter dem der Arzt thront, betont das Hierarchiegefälle.»

Ein Aspekt, den auch der Göttinger Medizinsoziologe Ottomar Bahrs anspricht. «Die Arzt-Patienten-Situation schliesst emotional ein wenig an das Eltern-Kind-Verhältnis an», führt er aus. «Das Bedürfnis nach Anerkennung beim Patienten gibt dem Arzt faktisch und emotional Macht.» Hierzu passe eine Aussage des ungarischen Psychoanalytikers Michael Balint: «Das wichtigste Medikament, das der Arzt verschreibt, ist er selbst - über dessen Risiken und Nebenwirkungen ist aber wenig bekannt.» Systematische Verständigungsprobleme und Machtungleichgewichte führten aber entweder zum Meiden von Arztbesuchen oder zu immer neuen Konsultationen.

Gespräche ohne Zeitdruck

Längere Gespräche mit den Patienten seien effektiver, so die Erfahrung von Hans-Michael Mühlenfeld, Hausarzt in Bremen und Vorsitzender des Bremer Hausärzteverbandes: «Meine Patienten haben das Gefühl, dass alle Zeit da ist, die sie brauchen.» Für ihn hängt die Ehrlichkeit der Patienten von dem Vertrauen ab, das sie zu ihrem Arzt haben: «Je enger die Beziehung, umso weniger wird geflunkert.»

Auch im Klinikalltag spielt die Arzt-Patienten-Kommunikation eine zentrale Rolle. «Hier ist die Beziehung in den vergangenen Jahren kürzer geworden, weil wir nicht mehr nur einen Arzt pro Krankheitsfall haben, sondern viele Spezialisten», beschreibt Claudia Spies von der Charité. Umso wichtiger sei die Schaffung einer vertrauensvollen Atmosphäre, etwa durch spezielle Trainings und Programme für das medizinische Personal. Denkbar wären «Team-Time-Outs»: gemeinsame Besprechungen mit dem Patienten und seinen Angehörigen sowie aller Behandler, oder auch «Patienten-Cafeterien», in denen Patienten offen Fragen stellen können und das auch an Ärzte, die sie nicht behandeln.

Ideen wie diese werden deutschlandweit ausprobiert. Schliesslich kann sich eine gute Arzt-Patienten-Beziehung verschiedenen Studien zufolge positiv auf den Behandlungserfolg auswirken, eine Tatsache die nicht zuletzt Argument für eine «sprechende Medizin» ist – und ein Faktor dafür, dass Patienten ihren Arzt möglichst wenig verschweigen. Denn das kann im Zweifel schwerwiegende Folgen haben.

Aufrichtigkeit bei Medikamenteneinnahme

So erklärt etwa Mediziner Stefan Wilm, dass bei Fragen zur Medikamenteneinnahme nicht geflunkert werden sollte: «Wenn sie nicht sagen, dass sie ihre Blutdruckmedikamente nicht nehmen, denke ich, dass das Mittel nicht hilft.» Auch das Vorenthalten bereits gelaufener diagnostischer Prozeduren wie Röntgen oder von Suchtmittelmissbrauch könne problematisch werden. Überdies sollten Patienten offen ansprechen, wenn sie mit einer gefundenen Lösung nicht übereinstimmten. «Aber diese Offenheit muss ich als Arzt ermöglichen», so Wilm.

Mehr Zeit für das Gespräch, Verzicht auf unverständliche Fachsprache, ehrliches Interesse, bewusstes Zuhören und ein ganzheitlicher Blick auf den Patienten, seine Geschichte und seine Möglichkeiten im Alltag – das sind die Forderungen, auf die sich viele Experten für eine gelungene Arzt-Patienten-Kommunikation einige können. Doch Stefan Wilm hat auch einen Rat für Patienten parat, wenn es mit der Kommunikation schwierig wird: «Wenn man seinem Hausarzt nicht vertraut oder dieser sich nicht genug Zeit nimmt, sollte man sich einen neuen suchen.»

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