Mortalität in Deutschland Viele Infizierte, wenige Tote – wie passt das zusammen? 

rre

23.3.2020

Die Schweiz hat aufgerüstet und testet jetzt 7'000 Personen täglich. 
Die Schweiz hat aufgerüstet und testet jetzt 7'000 Personen täglich. 
Bild: Keystone

Beim Blick auf die Covid-19-Echtzeitstatistik der John-Hopkins-Universität fällt Deutschland durch eine besonders niedrige Mortalität auf. Erklärungsversuche.

Die durch Tests ermittelten Covid-19-Fälle nehmen weltweit zu, in manchen Ländern steigen sie geradezu sprunghaft an.

Beim Blick auf die Echtzeitstatistik der medizinischen Fakultät der John Hopkins Universität fällt auf, dass sich die Zahlen (Stand Montagmorgen) eines Landes stark von den Entwicklungen anderer Staaten unterscheiden: Mit 24'873 bestätigten Infektionen sind in Deutschland bislang 94 Menschen der viralen Erkrankung erlegen.

Zum Vergleich: In der Schweiz wurden 7'724 Infektionen nachgewiesen, während 98 Menschen an den Folgen der Kranheit gestorben sind. Im von der Krise besonders gebeutelten Italien erhielten 59'138 Personen ein positives Testresultat. Bis heute beklagt Italien 5'476 Tote.

Genau wie Italien weist auch Deutschland einen relativ hohen Altersdurchschnitt der Bevölkerung auf. Glaubt man den Zahlen des «Bloomberg Global Health Index» so punkten die Italiener im Vergleich zu den Deutschen sogar mit einem gesünderen Lebensstil.

Früher Testbeginn

Wie kommt es also zu diesen Unterschieden? Ist der Grund für die tiefe Sterblichkeitszahl bei den Deutschen in der Methodik der Datenerfassung zu finden oder ist es die Diskrepanz zwischen den erfassten Krankheitsfällen und den unentdeckten Infektionen? Sind die durch konsequentes Testen ermittelten Zahlen realistischer, spiegeln sie, im Vergleich zu anderen Ländern, eher die tatsächliche Infektionsrate wider?

In Deutschland hatte man bereits früh damit begonnen, auch Menschen mit milderen Krankheitssymptomen zu testen. Gemäss dem Leiter des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, werden in Deutschland jede Woche etwa 160'000 Tests durchgeführt.

Marylyn Addo, Leiterin der Infektiologie am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf äussert sich gegenüber dem britischen «Guardian» vorsichtig: «Es ist noch zu früh, um zu sagen, dass Deutschland medizinisch besser auf die Covid-19-Pandemie vorbereitet ist als andere Länder». Während Covid-19 Italien wie ein Tsunami überrollte, hatten die Deutschen noch Zeit, die Kontakte der ersten Infektionsfälle zurückzuverfolgen.  

Zahlen werden steigen

Dass die Tests in Deutschland während der ersten Wochen vornehmlich bei den jüngeren und gesunden Personen positiv ausfielen, die aus Skigebieten in Österreich und Italien zurückkehrten, könnte die niedrige Sterberate ebenfalls erklären.

In einem Interview mit der Zeitung «Zeit» geht Christian Drosten, Leiter der Virologie an der Berliner Charité davon aus, dass es unter den Italienern viele junge Infizierte gab, deren Ansteckung unentdeckt blieb. Dadurch erkläre sich auch die höhere Sterberate.

Zugleich sagte er, dass die Sterberate in Deutschland in den kommenden Wochen wahrscheinlich steigen werde, da Hochrisikogebiete schwerer zu identifizieren seien und die Testkapazitäten mit steigender Infektionszahl überlastet werden würden: «Es wird so aussehen, als wäre das Virus gefährlicher geworden, aber das ist ein statistisches Artefakt, eine Verzerrung. Sie zeigt, was jetzt schon beginnt: Wir verpassen immer mehr Infektionen».

Auch die Datenerfassung könnte bei den vergleichsweise niedrigen Mortalitätszahlen der deutschen Bevölkerung im Zusammenhang mit Covid-19 eine Rolle spielen: Wird eine Person in Deutschland positiv auf das neuartige Coronavirus getestet, benachrichtigt der Arzt die örtliche Gesundheitsbehörde. Die wiederum gibt die Daten digital an das Robert-Koch-Institut weiter.

Schweiz erhöht Testkapazitäten

Die Verzögerung dieses Prozesses könnte erklären, warum die Zahlen des RKI durchweg niedriger waren als die der John Hopkins Universität, die ihre Daten häufiger aktualisiert. Anders als in Italien gibt es in Deutschland im Moment keine flächendeckenden Tests bei Verstorbenen. Laut RKI könnten Personen, die zu Lebzeiten nicht auf Covid-19 getestet wurden, wahrscheinlich aber infiziert wurden, nach dem Tod getestet werden.

Im föderalistisch organisierten deutschen Gesundheitssystem gehört das nicht zur Routine. Es ist also möglich, dass mehr Patienten an Covid-19 zu Hause verstorben sind, ohne dass sie statistisch erfasst wurden.

Die Infektiologin Marylyn Addo glaubt nicht, dass diese Zahl statistisch signifikant ist: «Ich habe noch keine Daten gesehen, die auf eine grosse Anzahl nicht getesteter Todesfälle im Zusammenhang mit Coronavirus-Infektionen hindeuten.»

Spitäler, die sich seit Wochen mit Atemwegserkrankungen befassten, seien seit Wochen in höchster Alarmbereitschaft und entsprechend sensibilisiert, daher wäre es für sie sehr überraschend, wenn es eine hohe Zahl unbekannter Todesfälle gäbe.

Inzwischen wurden auch in der Schweiz die Testkapazitäten deutlich erhöht, wie die «NZZ am Sonntag», gestützt auf Informationen des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), berichtet. Bis vergangenen Freitag wurden hierzulande bislang etwa 50'000 Proben untersucht.

Die Coronavirus-Krise – eine Chronologie



Zurück zur Startseite