Kolumne Begegnungszone – Kleinkrieg der Verkehrsteilnehmer

Von Marianne Siegenthaler

17.6.2019

In der Begegnungszone soll ein Mitainender von Fussgängern, Velofahrern und Autos stattfinden. 
In der Begegnungszone soll ein Mitainender von Fussgängern, Velofahrern und Autos stattfinden. 
Bild: Keystone

In einer Begegungszone gilt ausdrücklich das Miteinander, heisst es. Unsere Kolumnistin hat da andere Erfahrungen gemacht.

Auf der blauen Tafel herrscht heile Welt: Ein Einfamilienhäusli, eine Frau im Jupe mit Kind an der Hand, im Vordergrund ein rennender Bub und ein Mann neben einem Auto. Am rechten unteren Rand eine grosse 20 im roten Kreis. Das Begegnungszone-Schild könnte locker aus den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammen. Dabei gibt es diese Zonen, in denen Fussgänger theoretisch Vortritt haben und Autos theoretisch nur 20 km/h fahren dürfen, offiziell erst seit 2002. Trotzdem wäre eine Anpassung des Schilds an die Realität durchaus gegeben.

Miteinander? Ein Witz

Meine Erfahrung zeigt nämlich: Von einem einvernehmlichen, rücksichtsvollen Miteinander kann nicht die Rede sein. Nach wie vor herrscht im Strassenverkehr die Regel: Der Stärkere gewinnt. Das Auto weicht dem Bus aus, der Kleinwagen dem SUV, das Velo dem Kleinwagen und ich als Fussgänerin dem Velo.

Doch in der Begnungszone gibt es nicht mal eine Fluchtmöglichkeit aufs sichere Trottoir, denn diese sind hier nicht vorgesehen und drum platt gemacht. Aber seien wir ehrlich: Die gehörten ohnehin schon lange nicht mehr uns Fussgängern. Velos, E-Bikes, Trottis, Skateboards und neuerdings auch E-Trottis – sie alle machen sich darauf breit und verdrängen alles, was zu Fuss unterwegs ist. Also kann man sie ebensogut abschaffen. Nicht nur in der Begegnungszone.

Fussgängervortritt? Interessiert niemanden

Und Fussgängerstreifen gibt es auch nicht. Schliesslich haben wir Fussgänger in dieser Zone ja sowieso Vortritt. Theoretisch. Blöd nur, dass das niemanden interessiert. Die Automobilistinnen und -mobilisten schon gar nicht. Deren Aufmerksamkeit gilt dem Handy, der Frisur, der Zigarette oder dem Coffee-to-go ... äh ... -to-drive. Ausserdem haben sie es eilig. Und wenn sie denn schon mit 20 Kilometer pro Stunde durch die Dörfer, Städte und Quartiere schleichen müssen, dann wollen sie nicht auch noch ihre Zeit mit Anhalten vertrödeln. Das haben die Gesetzgeber vermutlich damals schon geahnt. Deshalb wird das Vortrittsrecht in der Singalisationverordnung Art. 22b gleich wieder eingeschränkt, denn sie (die Fussgänger) «dürfen jedoch die Fahrzeuge nicht unnötig behindern». Und was gibt es Unnötigeres als eine Fussgängerin, die über die Strasse will? Eben.

Bloss keine Begegnung

Aber um wieder auf das Schild zurückzukommen, hier mein Vorschlag: Das Einfamilienhäusli wird durch einen grossen Bus ersetzt. Die Frau im Jupe platzieren wir auf einem E-Bike, das Kind bekommt ein Trotti. Dem rennenden Bub setzen wir einen Helm auf – der verleiht doch wenigstens ein bisschen Schutz, wenn der Bub über die Strasse läuft. Der Mann bekommt ein Motorrad, und das Auto pumpen wir zu einem stattlichen SUV auf.

Und ganz normale Fussgänger? Die kann man vernachlässigen, denn als schwächstes Glied der Kette verzichten sie noch so gern auf Begegnungen mit Zwei- Vier- oder noch mehr Rädern.

Marianne Siegenthaler ist freie Journalistin und Buchautorin. Wenn sie grad mal nicht am Schreiben ist, verbringt sie ihre Zeit am liebsten im, am und auf dem Zürichsee.

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