Mit Berlinern auf einem Berner ZeltplatzWo sich Deutsche noch bemühen, bescheiden rüberzukommen
Von Michael Angele
1.9.2023
Campen gilt als hip und ökologisch. Unser Autor zeltet jedes Jahr am Bielersee. Dieses Mal war er mit Deutschen unterwegs – und fand sich unter echten Fahrenden wieder.
Von Michael Angele
01.09.2023, 17:47
Michael Angele
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
blue News Autor Michael Angele ging mit seiner deutschen Patchwork-Familie an den Bielersee campen und stellte fest: Die Ansprüche seines schweizerisch-deutschen Sohns unterscheiden sich nicht gross von denen der deutschen Kinder.
Allen Kindern gemein war, dass sie sich am See ziemlich schnell langweilten. Der Raum mit WLAN hingegen war der Place to be.
Den deutschen Gästen hat die Schweiz gefallen, allerdings finden sie die Preise doch eher hoch.
Sie waren angetan von der Millionenstadt Bern und überrascht, dass auch Schweizer Camper sich nicht immer an die Regeln halten.
Ausserdem hat es sie irritiert, wie liederlich Schweizer den Abfall trennen.
Meine befreundete deutsche Patchwork-Familie ist mit dem Zug von Berlin an den Bielersee gereist, mein Sohn und ich mit dem Auto. In Sachen Ökologie kann man der Patchwork-Familie nichts vormachen.
Es gefiel ihr nicht, dass der Abfall auf dem Campingplatz in speziellen Plastiksäcken gesammelt werden muss, aber nur grob getrennt werden kann: Glas, Papier, Rest. Irritiert waren meine deutschen Freunde auch, dass es tatsächlich Schweizer*innen gibt, die sich nicht an die Nachtruhe halten. Meine deutschen Freunde, die ein paar Tage vor mir angereist waren, trauten sich aber nicht, die lauten Zeltnachbar*innen anzusprechen.
Lieber wechselte ein Teil am nächsten Tag den Standort, mitten in die Wohnmobile. Sind die überhaupt ökologisch? Da gingen die Meinungen doch sehr auseinander.
Ich gab den Nachbar*innen in der nächsten Nacht den Tarif durch. Anderntags hatte ich ein schlechtes Gewissen.
«Den Tarif durchgeben» fanden meine deutschen Freunde kurios. Wie man weiss, bemühen sich die Deutschen heutzutage, als bescheidene, sympathische Mitbürger*innen zu gelten. Der Schlüssel dazu scheint ihnen das Schweizerdeutsche zu sein, das sie im Mund führen.
Der Patchwork-Papa sagte «Poschtli». Das ist kurios. Er meinte das Postauto. Die Schweiz gefiel ihnen wirklich, allerdings ist sie, auch das weiss man, teuer. Ein generationenübergreifendes Thema. Als ich die Tochter fragte, ob ihr die Schweiz gefalle, sagte sie: «Ja, aber teuer».
Immerhin: das Campieren ist nun wirklich nicht teuer. Das mussten auch die deutschen Freunde anerkennen.
Die Schweiz wird für grösser gehalten, als sie ist
Falsche Vorstellungen gab es über die Grösse des Landes. Eine Nachricht, die viele mit Glück erfüllen wird: Die Schweiz wird für grösser gehalten, als sie ist. Einmal machten wir einen Ausflug nach Bern. Kinder halten Bern für eine Millionenstadt. Ich widersprach nicht.
Sonst unterscheiden sich die Kinder der Deutschen nicht gross von den Kindern der Schweizer, ausser dass die Jungs nach jedem Halbsatz ein nervtötendes «Digger» fallen lassen. Der wichtigste Ort auf dem Zeltplatz ist für sie dort, wo das WLAN-Signal am besten ist. In unserem Fall ein Raum im zentralen Gebäude, den wir Eisraum tauften.
Zum Autor
Der Berner Michael Angele liefert regelmässig eine Aussenansicht aus Berlin – Schweizerisches und Deutsches betreffend. Angele schreibt für die Wochenzeitung «Der Freitag». Er ist im Seeland aufgewachsen und lebt seit vielen Jahren in Deutschlands Hauptstadt. Berndeutsch kann er aber immer noch perfekt. Als Buchautor erschienen von ihm zuletzt «Der letzte Zeitungsleser» und «Schirrmacher. Ein Porträt.»
Der Eisraum hat eine Klimaanlage, es war kühl. Den Kindern war das egal. Hauptsache, WLAN. Am zweiten Tag war den Kindern am See schon langweilig, das SUP lag auf dem Rasen rum (auf dem schönsten am See: in der Mörigenbucht). Sie wollten ins Westside am Rand der Millionenstadt.
Das Westside hat geile Rutschen, so etwas gibt es am See nicht. Mein Sohn, der Deutscher und Schweizer ist, hörte nicht auf, seinen Freunden vom Westside vorzuschwärmen. Das Westside war neben dem Eisraum der einzige Ort, der sie interessierte.
Am Zeltplatz wird die Liebe zu deinen Kindern auf die Probe gestellt. Sie muss auf ein tieferes Fundament gelegt werden.
Meine deutschen Freunde reisten ab, dafür kam ein anderer Deutscher, der sein kleines Zelt in unserer Ecke aufstellte. Dieser Deutsche lebt schon lange in der Schweiz. Seine Schweizer Freundin hatte ihm den Tarif durchgegeben, er musste aus der gemeinsamen Wohnung fliehen. «Hier kannst du dich erholen», meinte ich. «Es ist herrlich.»
Dann würde ich aber den Campingplatz in Estavayer nicht kennen, meinte er. Dort gebe es einen Sandstrand. Das hier sei doch «höchstens fünfzig Prozent».
Ich habe vom Sandstrand von Estavayer gehört, ihn aber noch nie gesehen, obwohl es weiss Gott keine Weltreise ist. «Das ist die Schweiz! Vielfalt auf kleinstem Raum», schwärmte ich. Man solle nur mal nach Biel schauen.
Statistisch sei es die multikulturellste Stadt der Welt, sagte ich, «und günstige Mieten.» «Noch», meinte der Deutsche. Bald sei es in Biel damit vorbei. Überhaupt komme ein riesiges Wohnproblem auf die Schweiz zu, sagte er, der als Polier auf dem Bau arbeitet. Früher kamen Menschen aus verschiedenen sozialen Milieus in der Beiz ins Gespräch, heute auf dem Zeltplatz.
Sind das etwa Zeichen des Schweizer Niedergangs?
Nirgendwo sonst scheint die Sorge über den Zustand eines Landes einem so unbegründet wie an einem seiner Seen, über dessen Gestade sich lieblich die Rebberge erheben. Aber gab es nicht tatsächlich Anzeichen für seinen stillen Niedergang? Gerade hier auf dem Zeltplatz?
Hatte ich nicht den Rand der WC-Schüssel mit Papier bedeckt, was mir die anderen Jahre nie nötig schien? Und wie konnte es sein, dass der Kaffeeautomat im Eisraum drei Tage lang nicht aufgefüllt wurde? So etwas hatte es doch früher nicht gegeben.
Ich kam mir plötzlich alt vor. Von dem grossen Unwetter 2021 sprach ich, als wäre es ein unvergesslicher Gewaltmarsch in der RS. Ausserdem biss es mich überall. Entenflöhe, vom Schwimmen im See. Es musste etwas geschehen.
Und es geschah etwas. Am vorletzten Tag standen drei Limousinen der Mittelklasse mit Duisburger Kennzeichen am Zaun. Wenig später fragte mich das Oberhaupt der Grossfamilie nach dem Wetter, denn es hatte zu regnen begonnen.
Das gehe vorbei, sagte ich, Mikroklima. Die Frauen, sie hiessen Maria, Ana, Vanessa, diskutierten auf Bulgarisch über das Essen. Sie sprachen über kürzeste Distanz so laut, als würden sie Ferngespräche ans Schwarze Meer führen. Mir war das egal, ich höre nicht mehr besonders gut.
Die Männer waren unterdessen mit der Logistik betraut. In den nächsten zwei Stunden wurden die Zelte immer wieder umgruppiert, bis ich und mein Sohn eingekreist waren. «Was hat euch hierher verschlagen?», fragte ich den, den sie Toni nannten. «Muss auch mal Urlaub machen.» Logisch.
Dann war ich es, der das Gespräch auf die Preise führte. Kein Problem, sie hätten Vorräte in Deutschland gekauft. Wir gingen dazu über, unsere Zelte zu vergleichen. Mein Zelt mit dem grossen Vorzelt und den beiden Kammern erregte ihre ehrliche Bewunderung. Ich war stolz.
Am Abend fuhren die Männer nach Neuville zum Musikmachen. Der Urlaub will verdient sein. Ich hatte Angst, dass ich die letzte Nacht vor der langen Rückreise nicht werde schlafen können. Viele Kinder in einem Zelt sind überall auf der Welt ein Sack voller sprachbegabter Flöhe. Die Eltern taten ihr Bestes.
Der Sohn kriegt nochmals die Kurve
Am nächsten Morgen verabschiedete ich mich von Toni und wir fuhren los. Ich dachte daran, wie wir am Vorabend durch das Seeland gefahren waren, die Sonne war eben untergegangen, da richtete mein Sohn, der meine Liebe durch seinen Westside-Fimmel auf eine harte Probe gestellt hatte, sein Handy nach aussen und filmte den tiefen Frieden, in den dieser Flecken Erde langsam eintauchte. Für den Familienchat.
Ich werde rechtzeitig eine Parzelle für nächstes Jahr reservieren.
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