Martin R. Dean «Die Kommentare über Murat Yakin waren rassistisch»

Von Bruno Bötschi

12.3.2023

Rassismus zieht sich durch alle Lebensbereiche. Ein Gespräch mit Schriftsteller Martin R. Dean über das Leben von People of Color in der Schweiz, Herzogin Meghan und den Umgang mit Nati-Trainer Murat Yakin.

Von Bruno Bötschi

12.3.2023

Martin R. Dean, wann fühlten Sie sich das letzte Mal einsam?

Als ich kürzlich an einem Literaturanlass wieder der einzige nicht-weisse Autor im Saal war.

Im Oktober 2021 sagten Sie in einem Interview mit dem «Magazin»: «In einer weissen Schweiz, namentlich in den ländlichen Gebieten (...) fühlt man sich als Person of Color sehr einsam (…). Diese Einsamkeit auszuhalten, kostet unheimlich viel Kraft.» In der Folge machte sich die «Basler Zeitung» über Ihre Aussage lustig.

Die «BAZ»-Journalistin liess in ihrem Text keinerlei Empathie erkennen. Sie unterstellte mir stattdessen, mein Gefühl sei falsch. Wie kann man Gefühle von anderen in Abrede stellen? Mir kam das so vor, als würde ich einem Hundebesitzer sagen: «Können Sie Ihr Tier bitte an die Leine nehmen. Ich habe Angst vor Hunden.» Darauf sagt der Hundebesitzer: «Sie brauchen keine Angst zu haben, mein Hund beisst nicht.»

Wo beginnt Rassismus?

Rassismus beginnt dort, wo Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe diskriminiert werden. Rassismus geschieht im Alltag, jeden Tag, überall. Daher geht es um Haltung und Zivilcourage von jedem und jeder Einzelnen.

Eine Studie der Universität Neuenburg zeigt, dass Diskriminierung und struktureller Rassismus in der Schweiz weit verbreitet sind. Der erste Satz in der Kurzfassung der Studie lautet: «Rassismus wurde in der Schweiz lange als Randphänomen betrachtet.» Sehen Sie das auch so?

Zur Person: Martin R. Dean
Sven Schnyder

Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren. Er studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. Zusammen mit SRF-Moderatorin Angélique Beldner schrieb er 2021 das Buch «Der Sommer, in dem ich Schwarz wurde».

Fakt ist: Rassismus hat in der Schweiz eine lange Geschichte. Er hat viel zu tun mit dem sogenannten Landi-Geist der 1930er-Jahre. Damals wurde das Nationale sehr stark betont. Ende der 1960er-Jahre war dann die Diskriminierung italienischer, türkischer und anderer Migrant*innen in der Schweiz weit verbreitet. Dazu muss gesagt werden: Ausgrenzendes Verhalten ist in der Schweiz selten offen und aggressiv, sondern unbewusst und verdeckt. Oder anders gesagt: In den USA werden Schwarze verprügelt, in der Schweiz werden die Ausländer*innen wie Unmenschen behandelt.

Sie sind im aargauischen Menziken gross geworden. Wurden Sie dort auch so behandelt?

Man hat jedenfalls immer gewusst, wer ich bin. Am Kiosk wurde ich einmal gefragt: Wo kommst du her? Als ich «aus Menziken» geantwortet habe, lachte die Frau und sagte: «Ein guter Witz.» Später ging ich in Aarau an die Kantonsschule. Dort war bis 1972 der Kadettenunterricht für die Buben obligatorisch. Während dieses paramilitärischen Unterrichts lernten wir unter anderem das Schiessen. Als wir einmal bei 38 Grad im Schatten in Reih und Glied antreten mussten, setzte ich meine Mütze auf den Lauf meines Gewehres statt auf meinen Kopf. Plötzlich stand der Instruktor vor mir, gab mir eine gewaltige Ohrfeige und sagte: «Bei uns in der Schweiz machen wir das nicht so.»

Die Studie der Universität Neuenburg sagt erstens, dass es bei gleicher Qualifikation je nach Herkunft, vor allem für Personen aus Südosteuropa und schwarze Menschen, schwieriger sei, eine Stelle zu finden. Und zweitens, dass es im Wohnungsmarkt klare Hinweise auf rassistische Diskriminierung gibt. Überraschen Sie diese Resultate?

Nein. Denn es war doch schon immer so: Alles, was knapp ist, wird zuerst an die Einheimischen vergeben. Bei der Vergabe einer Wohnung ist zudem die finanzielle Rücklage ein valables Argument. Menschen, die in Verdacht stehen, kein gesichertes Einkommen zu haben, haben da deutlich schlechtere Karten. Und dann geht es auch noch um das soziale Verhalten: In der Schweiz wollen die Vermieter möglichst nur Mieter einziehen lassen, die nur in die Wohnung kommen zum Schlafen, also keinen Krach machen …

… und zum Kochen möglichst keine Zwiebeln verwenden?

So ist es.

Was denken Sie, warum fällt es vielen Schweizer*innen schwer, sich einzugestehen, dass es auch in unserem Land Rassismus gibt?

Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass in unserem Land die harte Form des Rassismus fehlt. Es gibt bei uns zudem die Tendenz, dass wir die Schweiz als Musterländli ansehen. Und in einem Musterländli kann es eben auch keinen Rassismus geben.

Fakt ist: Struktureller Rassismus betrifft alle Menschen, egal, ob reich oder arm. In der Netflix-Doku «Harry & Meghan» wird gezeigt, wie etwa die britischen Medien damit bewusst zündeln.

Darf ich dazu kurz etwas ausholen?

Nur zu.

Ich hatte zwei Väter, einen leiblichen Vater und einen Stiefvater. Beide Männer stammten aus der britischen Kronkolonie Trinidad. Konkret heisst dies: Die Queen war quasi das Oberhaupt meiner Schweizer Mutter. Ich bin deshalb mit englischer Marschmusik aufgewachsen und trug am Sonntag jeweils einen englischen Blazer. Meine Mutter liebte England über alles.

Und Sie?

Ich mochte die Queen ebenfalls ganz gern. Bis vor wenigen Jahren war man übrigens auch auf Trinidad stolz auf Elizabeth II. Denn durch sie als Staatsoberhaupt konnte man quasi am Weltgeschehen teilnehmen. Heute habe ich gegenüber den britischen Royals ein durchaus gemischtes Verhältnis.

Sie haben sich die Netflix-Doku «Harry & Meghan» angesehen. Was ist Ihr Eindruck?

Was ich in Sachen Rassismus sehr spannend finde, ist, dass die Menschen in den USA komplett anders auf Meghan reagieren als in Grossbritannien. Während das Vereinigte Königreich in Sachen Kultur sich extrem fortschrittlich gibt, werden nicht zuletzt von der Monarchie Rituale gepflegt, die über 600 Jahre alt sind und bei denen möglichst keine Frauen und Schwarze dabei sein sollen. Dabei würde sich Meghan doch wunderbar als zeitgenössische Botschafterin machen – insbesondere in den Ländern, die zum Commonwealth gehören. Stattdessen stiess die junge Frau im Buckingham-Palast scheinbar sehr schnell auf Widerstand.

«In den USA werden Schwarze verprügelt, in der Schweiz werden die Ausländer*innen wie Unmenschen behandelt»: Martin R. Dean, Schriftsteller.
«In den USA werden Schwarze verprügelt, in der Schweiz werden die Ausländer*innen wie Unmenschen behandelt»: Martin R. Dean, Schriftsteller.
Bild: Ayse Yavas

Die britische Presse hat in Sachen Rassismus viel zu bieten: So postete der BBC-Moderator Danny Baker nach der Geburt von Meghans und Harrys Sohn Archie ein Foto des Paares mit einem Schimpansen darauf. Überschrift: «Das königliche Baby verlässt das Hospital.» Baker löschte den Post wieder, sagte «Sorry, sollte ein Witz sein» und wurde trotzdem gefeuert.

Das Bild ist ein absolutes No-Go. Einen schwarzen Menschen mit einem Affen gleichzusetzen, ist die unterste Schublade und ganz übler Rassismus. Die Empfindlichkeiten der People of Color ist durch die «Black Lives Matter»-Bewegung in den letzten Jahren deutlich grösser geworden – und wie ich finde: ganz zu Recht.

Meghan und Harry sprechen in der Netflix-Doku offen über Rassismus. Werden Sie damit in der Welt etwas verändern können?

Ich denke, ja. Meghan und Harry sind zwei Leuchttürme mit extrem grosser Ausstrahlung. Ich muss zwar sagen, ich bin nicht mit allen Aussagen von ihnen einverstanden. Aber ich glaube Meghan, wenn sie sagt, dass sie als Amerikanerin mit einer gewissen Naivität an die ganze Sache herangegangen sei – wohl auch deshalb, weil sie in den USA mit ihrer hellen Hautfarbe kaum Rassismus-Erfahrungen gemacht hat.

Im bereits erwähnten «Magazin»-Interview sagten Sie vor zwei Jahren: «Wörter sind der Zement, mit dem sich Vorurteile in unseren Köpfen fixieren.» Was kann jede und jeder Einzelne gegen diese Fixierungen tun?

Früher war in der Soldatensprache der «Gestampfe J…» eine der gängigen Bezeichnungen für die Fleischkonserven der Schweizer Armee. Heute leuchtet das jeder und jedem ein, dass dieser Begriff nicht mehr verwendet werden darf. Ich finde, dieses Beispiel zeigt gut, dass Veränderungen möglich sind – und zwar ohne, dass ich irgendwelche Einbussen von persönlichen Freiheiten in Kauf nehmen muss. Unsere Wortwahl hat doch auch mit Respekt zu tun. Warum sprechen wir junge Frauen nicht mehr mit «Fräulein» an? Heute haben wir die Chance zuzusehen, wie Aufklärung sich auch in der Sprache vollzieht und nicht bloss über Veränderungen von Gesetzen.

Aber wenn Rassismus als strukturelles Problem alle Bereiche der Gesellschaft durchzieht, was bringt es denn, bei mir selbst anzufangen? Kann ich überhaupt irgendetwas ändern?

Meine Überzeugung ist, dass unsere Gesellschaft in den letzten drei, vier Jahren in Sachen Rassismus extrem viel dazu gelernt hat. Aber natürlich finden das nicht alle gut – so hat sich die SVP erst kürzlich den Kampf gegen den «Woke-Wahnsinn» und den «Gender-Terror» auf die Fahnen geschrieben.

Und was, wenn ich unsicher bin, ob ich das Richtige tue oder ob ich das Richtige sage?

Ich hörte kürzlich ein Interview mit Kim de l’Horizon. Er machte darin …

… Entschuldigung, Kim de l’Horizon ist nonbinär.

Ach, jetzt haben Sie mich erwischt. So oder so: Ich finde, Kim macht das wunderbar. Und wegen der Ansprache: Meine Frau, sie ist Lehrerin an einer Hochschule, hat mir kürzlich erzählt, dass das mit der Ansprache der Schüler*innen immer komplizierter wird. Deshalb finde ich es ganz wichtig, dass mein Gegenüber klar verbalisiert, wie sie oder er angesprochen werden möchte.

Viele Menschen finden die Diskussion um politische Korrektheit, um Begrifflichkeiten anstrengend und haben keine Lust, sich damit auseinanderzusetzen. Was setzen Sie dem entgegen?

Zuerst einmal versuche ich niemanden anzuklagen. Denn ich habe in Anbetracht der aktuellen Weltlage, also dem Krieg in der Ukraine über die Inflation bis zum Klimawandel, durchaus Verständnis dafür, dass manche Menschen auf diese Diskussion aktuell keine Lust haben.

Manch einer wünscht sich eine Liste mit Wörtern, die sie oder er verwenden oder eben streichen sollte. Manch eine*r sehnt sich nach einfachen Handlungsanweisungen: «Mache das, dann bist du kein*e Rassist*in.»

Ach, wenn es nur so einfach wäre … Im Buch «Der Sommer, in dem ich Schwarz wurde», das ich zusammen mit SRF-Moderatorin Angélique Beldner geschrieben habe, haben wir aber genau aus diesem Grund am Ende des Buches ein Glossar publiziert. So können die Menschen, die es wollen, sich über die korrekten Wörter informieren.

Aktivistin und Autorin Tupoka Ogette sagte 2020 in einem «Spiegel»-Gespräch: «Es ist ein bisschen wie Smog, den wir täglich einatmen. Rassismus ist quasi die Norm und nicht die Abweichung.»

Tupoka Ogette hat recht. Rassismus ist eine Haltung, die durch negative Vorbilder ausgelöst wird. Sie haben in diesem Zusammenhang sicher schon von unconscious biases gehört. Das sind unbewusste Vorurteile, die sich auf Fähigkeiten und Kompetenzen unterschiedlicher Personen oder Gruppen beziehen. Jeder Mensch hat sie. Sie dienen dazu, schnelle Urteile über Situationen zu fällen oder beispielsweise um Gefahren zu erkennen. Sie können aber auch zur Falle werden und deshalb ist es wichtig, dass sie reflektiert werden. Ich glaube zudem, unconscious biases sind etwas sehr Schweizerisches. Denn in unserem Land läuft vieles im Unbewussten ab.

Geht es noch etwas konkreter bitte?

Während der Fussball-WM in Katar habe ich die Berichterstattung über die Schweizer Fussballnationalmannschaft sehr genau verfolgt und dabei festgestellt: die Kommentare über Trainer Murat Yakin waren teilweise rassistisch.

Haben Sie ein Beispiel?

Nachdem die Schweizer Nati verloren hat, wurde Murat Yakin als Gambler, Langschläfer und Südländer mit jovialen Gesten beschrieben. Zu Zeiten von Köbi Kuhn hiess es jeweils nach Niederlagen, er sei ein Krampfer. Verstehen Sie, was ich meine?

Ja.

Aber vieles von dieser Kritik ist in den Köpfen angekommen. Ich bin sehr zuversichtlich.


Der Sommer, in dem ich Schwarz wurde, Angélique Beldner und Martin R. Dean, 182 Seiten, Atlantis-Verlag, Zürich, ca. 28 Fr.


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