Kolumne Monogamie versus Polyamorie – ich weiss nicht, zu wem ich gehöre

Von Tim K. Wiesendanger

13.7.2020

Es ist wohl die Gretchenfrage im modernen Beziehungszeitalter: mono- oder polygam? (Symbolbild)
Es ist wohl die Gretchenfrage im modernen Beziehungszeitalter: mono- oder polygam? (Symbolbild)
Bild: Getty Images

Die meisten Menschen versuchen, sich auf eine Sexpartnerin oder einen -partner zu beschränken, zumindest für die Dauer einer Beziehung. Oft gelingt das nicht. Denn Monogamie entspricht einem Mythos.

«Ich weiss nicht, zu wem ich gehöre,

ich bin doch zu schade für einen allein.

Wenn ich jetzt grad Dir Treue schwöre,

wird wieder ein anderer ganz unglücklich sein.

Ja soll denn etwas so Schönes nur einem gefallen?

Die Sonne, die Sterne gehören doch auch allen.

Ich weiss nicht, zu wem ich gehöre,

ich glaub', ich gehöre nur mir ganz allein.»

Als Marlene Dietrich in den 1930er-Jahren dieses Lied der freien Liebe sang, war sie ihrer Zeit weit voraus. Was ist falsch daran, jemanden oder gleichzeitig auch mehrere Menschen so lange zu lieben respektive mit ihnen Eros zu teilen, wie diese Kräfte tatsächlich fliessen und nicht jemanden für ein ganzes Leben haben zu wollen oder gar haben zu müssen?

Zum Autor: Tim K. Wiesendanger
Bild: zVg

Dr. phil. Tim K. Wiesendanger ist Psycho-, Sexual- und Paartherapeut in eigener Praxis in Zürich und Autor verschiedener Sach- und Fachbücher im Themenbereich «Sexuelle Identität».

Zwar hinterfragen heute viele die lebenslang ausgerichtete monogame Ehe als alleinig seligmachend. Im 21. Jahrhundert leben wohl die meisten Paare in sogenannt serieller Monogamie und teilen somit ihre Sexualität während eines bestimmten Lebensabschnitts ausschliesslich mit der einen Partnerin respektive mit dem einen Partner.

Daran ist nichts richtig oder falsch. Es gibt gute Gründe, sich genau dafür zu entscheiden. Immerhin tun es die meisten Menschen genauso. Und allen, die damit glücklich sind, will ich mit meinen Ausführungen keines Besseren belehren.

Allerdings bedarf dieses Lebenskonzept auf der Grundlage der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse einer Erweiterung. Namhafte Biolog/innen erkennen in Monogamie beim Menschen nämlich keinerlei Evidenz. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass wir Menschen naturgegeben polygame, also auf mehrere Partner/innen ausgerichtete Wesen sind.

Auf diesem Hintergrund versuche ich, diesen Befund aus humanistisch-tiefenpsychologischer Perspektive zu reflektieren und Alternativen zur authentischen Gestaltung von Paarbeziehungen für diejenigen aufzuzeigen, die sich in einer klassischen Zweierbeziehung mit exklusiv geteilter Sexualität nicht oder nicht mehr wohlfühlen.

Mythos Monogamie

Mit ihrem überaus lesenswerten, ebenso wissenschaftsbasierten wie humorvoll geschriebenen Buch «Sex at Dawn» (Sex bei Morgendämmerung im Sinne von Sex bei genauerer Betrachtung) erregten die beiden Biolog/innen Christopher Ryan und Cacilda Jethà 2010 weltweites Aufsehen.

In ihrer breit abgestützten Metastudie kamen sie zum Schluss, dass aus wissenschaftlich biologischer Sicht nichts für eine monogame, also ausschliesslich auf eine Person gerichtete Sexualität beim Menschen spricht. Vielmehr scheint uns Menschen, ebenso wie den weitaus meisten Säugetieren, namentlich auch unseren nächsten Verwandten im Tierreich, den Bonobos und Schimpansen, mit denen wir über 98 Prozent unserer Gene teilen, natürlicherweise die polygame, also gleichzeitig auf mehrere Partner/innen angelegte Sexualität zu entsprechen.



Monogamie beim Menschen entlarven die beiden Wissenschaftler/innen als einen zwar breit angelegten gesellschaftlichen Konsens, lassen aber keinen Zweifel daran, dass es sich dabei letztlich um ein Konstrukt mit einem überaus starken moralischen Impetus handelt und nicht um etwas, das sich aus der Biologie des Menschen erklären liesse. Anders formuliert: Monogamie beim Menschen entspricht einem Mythos.

Nun haben wir Menschen diesen Mythos in aller Regel zeitlebens in uns verinnerlicht. Dabei verbinden sich familiäre und gesellschaftliche Gebote, für manche darüber hinaus auch religiöse Gesetze, die suggerieren, die einzig richtige Lebensform zweier Menschen sei die lebenslang anhaltende Ehe zwischen Mann und Frau in sexueller Ausschliesslichkeit.

Zwar wurde dieser Mythos durch den gesellschaftlichen Wandel in unserer westlichen Kultur seit den überaus prüden Nachkriegsjahren längst durch die gängige Form der seriellen Monogamie wesentlich erweitert. Und seit vielleicht zehn, zwanzig Jahren findet darüber hinaus auch die Option gleichgeschlechtlicher Beziehungen breiten Konsens. Doch gilt für viele weiterhin der Imperativ möglichst langjähriger Partnerschaften, in denen man sich sexuell treu bleibt.

Selbstverständlich gibt es gute Gründe dafür. Seriell monogame Beziehungen bieten Beteiligten einen Halt und zumindest vordergründig eine gewisse Sicherheit, namentlich klassischen Kleinfamilien. Auch können sexuell übertragbare Krankheiten vermieden werden, sofern sich beide Partner/innen tatsächlich an die vereinbarte Ausschliesslichkeit halten. Und – last but not least – führt uns die leider wohl noch längere Zeit nicht überstandene Corona-Krise vor Augen, dass sich bei jedem Kontakt jenseits der hinlänglich bekannten Verhaltensregeln das Ansteckungsrisiko mit Covid-19 erhöht.

Dies tut jedoch der grundsätzlich polygam angelegten menschlichen Natur keinen Abbruch. Letztlich sind ja auch seriell monogame Paarbeziehungen keine monogamen Verbindungen, wie man sie bei tatsächlich monogamen Säugetieren kennt. Solche dauern lebenslang an. Auch zeigen monogame Tiere kein Verlangen nach anderen Artgenossen, so wie wir sie auf menschlicher Ebene als Verführung sehr gut kennen. Daher darf man sich in Singlephasen ja durchaus auch austoben, ohne dass man dafür scheel angeschaut wird. Immerhin. Aber spätestens mit einer neuen Beziehung muss damit wieder Schluss sein.



Wie hingegen manifestiert sich Paarsexualität bei vielen Menschen nach einiger Zeit der Zweisamkeit in sexueller Ausschliesslichkeit? Geradezu charakteristisch für manche, wenn nicht sogar für die Mehrheit dieser Paare, scheint zu sein, dass die gemeinsame Sexualität nach und nach schwindet oder diese zumindest nicht mehr die lebensbejahende Rolle spielt, die sie hoffentlich zur Anfangszeit der Beziehung noch innehatte. Diese Ehen oder Partnerschaften mögen dennoch sehr glücklich sein. Aber es mangelt ihnen oft an einer entscheidenden Würze und dies nicht selten sowohl im quantitativen wie im qualitativen Sinn: lustvollem Sex.

Selbstverständlich gibt es auch Paare in monogamer Beziehung, die nach vielen Jahren oder gar nach Jahrzehnten noch immer eine wache, inspirierende und lebendige Sexualität miteinander teilen. Vielleicht gehören Sie zu den Glücklichen, denen dies beschieden ist. Aber – Hand aufs Herz – bei wie vielen Paaren, die Sie gut kennen, gehen Sie davon aus, dass sie auch nach zwanzig oder dreissig Jahren ihre Sexualität – jenseits von gutbürgerlichen Fassaden – noch immer regelmässig und voller Freude miteinander teilen?

Vergebliche Liebesmüh?

Aus einfühlbaren Gründen beabsichtigen viele Paare, sich «nur» wegen unbefriedigender Paarsexualität auch gar nicht zu trennen. Auch dies mag eine richtige Entscheidung sein. Jedenfalls gibt es gute Gründe dafür. Doch welche Konsequenzen folgen daraus für die Sexualität der beiden Beteiligten?

Heisst dies, halt von nun an auf Sex zu verzichten respektive sich mit dem zu begnügen, was davon noch übrig geblieben ist? Darf die eigentlich naheliegende Option, nämlich diejenige einer sexuellen Öffnung der Beziehung, überhaupt angesprochen werden? Für viele bedeutet sie ein solch rotes Tuch, dass bereits schon das Thematisieren einen Härtetest für die Partnerschaft bedeutet.

Genau mit diesem Dilemma finden inzwischen viele heterosexuelle Ratsuchende den Weg in meine Praxis. Öfters sind es Männer, die damit anklopfen, nicht selten aber auch Frauen oder Paare. Sie – wie die meisten Menschen unseres Kulturkreises – haben das omnipräsente Monogamiegebot seit Kindesbeinen an in sich verinnerlicht und tun sich schwer damit, diesem nicht oder nicht mehr genügen zu können respektive nicht mehr genügen zu wollen.

Oft voller Schuldgefühle finden sie sich in einer eigentlichen Monogamiefalle wieder und wissen nicht, wie sie da je hinauskommen sollen. Inskünftig im Leben auf Sex verzichten möchten sie nicht. Aber was, wenn dieser in der Beziehung kaum noch oder gar nicht mehr stattfindet?

Viele gaben sich über Jahre alle Mühe, sich damit abzufinden und ihr Bedürfnis nach Sex halt «einfach»zu ignorieren. Hoffentlich fanden sie zumindest in der Selbstbefriedung das, was dieser Ausdruck ja verheisst. Wenigstens blieben sie damit ihrer Partnerin oder ihrem Partner ja «treu», es sei denn, selbst Masturbation gilt als Tabu. Häufig wird als Ersatz für partnerschaftlichen Sex ­notgedrungen auch der Konsum von Pornos als das kleinere Übel anstelle von Fremdgehen «halt» hingenommen. «Don’t ask, don’t tell!» lautet sodann meist die ebenso häufig gewählte, wie unausgesprochene Devise.

Andere leben ihre sexuellen Bedürfnisse mehr oder weniger heimlich mit Dritten aus, sei dies mit Geliebten oder mittels käuflichem Sex. Ehrlich über die Option einer sexuell offenen Partnerschaft geredet wird aber häufig nicht.

Bei vielen – wenn selbstverständlich auch nicht bei allen – schwulen Paaren sind offene sexuelle Paarbeziehungen hingegen selbstverständlich. Sie leben solche nicht nur, sondern kommunizieren darüber meist auch offen miteinander. Viele haben zuvor ihre Erfahrungen in monogamen Beziehungen gemacht und dabei ihren Selbstbetrug in Sachen romantisierter Verklärung holder Zweisamkeit aufgedeckt. Selbstbewusst gehen sie solche schon gar nicht mehr ein oder öffnen ihre Beziehung nach einiger Zeit in sexueller Hinsicht und in Absprache miteinander.

Dies wiederum bedeutet nicht, dass in der bestehenden Partnerschaft keine Sexualität mehr gelebt wird. Nicht wenige schwule Männer sind in einer festen Paarbeziehung und finden darin weiterhin erfüllenden Sex. Doch sie geniessen darüber hinaus auch Sex mit Dritten, da ihnen diese Art der Lebensgestaltung entspricht. Genau dies bringt wiederum – so paradox es aufs Erste klingen mag – oft auch wieder Schwung in die gemeinsame Paarsexualität.

Eifersucht und schlechtes Gewissen

Doch selbstverständlich sind auch in sexueller Hinsicht offen lebende schwule Paare nicht a priori vor Eifersucht auf der einen Seite und schlechtem Gewissen auf der anderen Seite gefeit. Auch bei ihnen geht es selbstverständlich darum, gegebenenfalls über solche höchst unangenehmen Befindlichkeiten offen zu kommunizieren lernen und einen gangbaren Weg für beide zu finden. Doch aus lauter Bedrängnis durch Eifersucht und schlechtem Gewissen wieder zum Mythos Monogamie zurückzukehren, ist für die meisten keine Option.



Eifersucht und schlechtes Gewissen leisten denn auch dem Mythos Monogamie mit seinem Monogamiegebot unentwegt Vorschub. Doch sind weder Eifersucht noch schlechtes Gewissen natürliche primäre Gefühle, sondern basieren auf einem althergebrachten und wenig reflektierten Besitzdenken: «Du gehörst mir.»

So fühlt sich die oder der Eifersüchtige im Recht, weiss sie oder er den breiten Gesellschaftskonsens doch hinter sich. Dann ist die Gefahr gross, dass demzufolge die- oder derjenige mit schlechtem Gewissen sich auch rechtmässig an den Pranger gestellt fühlt, daher Reue zeigt und Besserung gelobt. Dies bedeutet allerdings, ein Arrangement auf dünnem Eis einzugehen.

Anstatt nach langfristigen konstruktiven Ansätzen zu suchen, verharren manche genau in dieser Starre – Jahre oder Jahrzehnte lang. Der Preis für diesen Lockdown wird vom reuigen Part wohl oder übel in Kauf genommen. Oder aber – und gar nicht selten – wird das Bedürfnis hinter dem Rücken der Partnerin oder des Partners trotzdem ausgelebt. Doch zeugen Verordnen eines Lockdowns respektive dessen heimliches Umgehen tatsächlich von Respekt füreinander?

Selbstverständlich ist es überaus wünschenswert, der Paarsexualität verlorenen gegangene Lebendigkeit wieder zu verleihen. Darin bestehen denn auch vielfältige Möglichkeiten. Leider bleiben davon aber wiederum viele ungenutzt, weil es vielen so schwerfällt, sich offen mit ihrer Partnerin oder ihrem Partner über ihre wahren sexuellen Bedürfnisse auszutauschen.

Doch selbst eine lebendige Paarsexualität schliesst das Bedürfnis nach Sex mit Dritten nicht aus. Nur: Gefährdet «de Foifer und s’Weggli» haben zu wollen nicht die bestehende Beziehung? Häufig wird als Argument gegen eine sexuelle Öffnung der Beziehung denn auch angeführt, dass sie ihr Gegenüber nicht an eine Andere oder einen Anderen verlieren wollen. Auf den ersten Blick ist dies zwar verständlich. Doch wenn sich das Bedürfnis nach Sex mit Dritten immer wieder meldet, laufen Paare langfristig nicht genau diese Gefahr?

Bei vielen – wenn selbstverständlich auch nicht bei allen – schwulen Paaren sind offene sexuelle Paarbeziehungen hingegen selbstverständlich. Sie leben solche nicht nur, sondern kommunizieren darüber meist auch offen miteinander. (Symbolbild)
Bei vielen – wenn selbstverständlich auch nicht bei allen – schwulen Paaren sind offene sexuelle Paarbeziehungen hingegen selbstverständlich. Sie leben solche nicht nur, sondern kommunizieren darüber meist auch offen miteinander. (Symbolbild)
Bild: Getty Images

Ein solches Bedürfnis löst sich denn auch selbst mit aller erdenklichen Liebesmüh nicht einfach so in Luft auf, sondern zeigt sich umso stärker, je mehr es unterdrückt wird. Und dies hat – zumindest a priori – nichts damit zu tun, dass die Partnerin oder der Partner einem nicht mehr genügt, sondern entspringt einem vielen Menschen innewohnenden und – wie wir aus der Biologie wissen – natürlichen Bedürfnis.

Einen Menschen zu lieben, bedeutet denn auch das Gegenteil davon, über sie oder ihn zu verfügen. Vielmehr zeichnet sich Liebe gerade dadurch aus, seiner Partnerin respektive seinem Partner Freiheit zur Entfaltung ihres oder seines Lebenswegs zu gewähren. Dies wiederum ist die beste Voraussetzung dafür, dass eine Partnerschaft lebendig bleibt und hoffentlich dadurch auch lange währt – nicht nur, aber auch in sexueller Hinsicht.

Anima und Animus

Stimmt es, dass Männer ohne Weiteres Sex und Liebe voneinander trennen können und Frauen sich genau damit schwertun? Und ist es wahr, dass sich daher Männer auch ohne Weiteres auf Sex mit Dritten einlassen können? Ganz klar: jein.

Weiterführender als die bekannten Stereotype gegenüber Männern und Frauen zu bemühen ist es, auf die innerseelischen Kräfte in beiden Geschlechtern zu fokussieren. Auf diese Weise zeigt sich, dass serielle monogame Beziehungen für einen Teil von uns Menschen tatsächlich die richtige Passform darstellen. Für andere trifft dies jedoch nicht zu.

Meine diesbezüglichen Theorien bauen auf dem Konzept von Anima und Animus des Begründers der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jung auf. Jung beschrieb darin, dass jeder Mensch, egal ob Mann oder Frau, innerseelisch weibliche und männliche Anteile hat. So steht Anima bei Jung für die unbewussten weiblichen Anteile im Mann und Animus für die unbewussten männlichen Anteile in der Frau.

Darauf aufbauend erkenne ich in Anima ein Streben nach Intimität, bei Animus eines nach Autonomie. Beides sind Werte auf Augenhöhe. Dabei spiegeln sich diese Kräfte auf allen Energieebenen, namentlich auch auf derjenigen des Herzens und der Sexualität.

Eine starke Anima auf der Herzenergieebene bedeutet demzufolge ein hohes Bedürfnis nach Intimität auf geistig-seelischem Niveau. Eine starke Anima auf der Sexualenergieebene spiegelt ein mehr oder weniger ausgeprägtes Bedürfnis nach erotischer Zweisamkeit. Anima fühlt sich somit tendenziell in monogamen Beziehungen zu Hause, de facto meist in seriell monogamen Beziehungen.



Umgekehrt bedeutet ein starker Animus auf der Herzenergieebene ein hohes Bedürfnis nach Autonomie auf geistig-seelischem Niveau. Ein starker Animus auf der Sexualenergieebene spiegelt eine mehr oder weniger ausgeprägte Tendenz in Richtung polygamer Beziehungsformen.

Dabei sind Anima und Animus sogenannt normalverteilt, was bedeutet, dass die häufigsten Werte zwischen 33 und 67 Prozentpunkte liegen, also beispielsweise Anima bei 40 Prozent und Animus bei 60 Prozent. Ausgeprägtere Werte zu den Polen hin werden immer seltener.

Herauszufinden, wie viel Anima und wie viel Animus in einem steckt, geht letztlich nur übers ehrliche In-sich-Hineinspüren respektive über Erfahrungen. Dabei ist es wichtig, diese Bedürfnisse jenseits familiärer, gesellschaftlicher oder religiöser Erwünschtheit sowie jenseits von Eifersucht und schlechtem Gewissen zu ergründen.

Dies ist alles andere als einfach, denn aufgrund des Mythos Monogamie ist auf der Sexualenergieebene eine klare Identifikation mit Anima sozial erwünscht. Genau daher wird es ganz schön eng für Menschen, die in ihrer Sexualität einen starken Animus verspüren.

Häufig identifizieren sich Frauen auf der Sexualenergieebene stärker mit ihrer Anima, Männer mit ihrem Animus. Dies braucht hingegen erstens überhaupt nicht zwangsläufig so zu sein und ist zweitens kein Schwarz-Weiss-Kontrast, sondern gestaltet sich aufgrund der beschriebenen Normalverteilung in Nuancen. Auch soll man unbedingt den Fehler vermeiden, Anima mit Frau zu verwechseln und ebenso wenig Animus mit Mann. So gibt es Frauen mit einem starken Animus in der Sexualität, ebenso wie Männer mit einer starken Anima ebendort.

Dass aber viele Männer auf der Sexualenergieebene eine höhere Identifikation mit ihrem Animus haben, also häufiger als Frauen ein starkes Bedürfnis nach Autonomie in der Sexualität erleben, zeigt sich charakteristisch in vielen schwulen Beziehungen, während offene sexuelle Beziehungen in lesbischen Partnerschaften eher die Ausnahme sind.

In homosexuellen Beziehungen trifft Mann auf Mann respektive Frau auf Frau und somit auf Sexualenergieebene häufig Animus auf Animus beziehungsweise Anima auf Anima. Hingegen trifft bei heterosexuellen Paaren Mann auf Frau und somit häufig Animus auf Anima. Daher kommt es bei ihnen häufiger als bei gleichgeschlechtlichen Paaren zum Zielkonflikt der sexuellen Beziehungsgestaltung.

Etwas Ernstes? Etwas Authentisches!

«Nina sucht eine ernste Beziehung.», «Adrian und Monika leben seit Jahren in fester, ernsthafter Beziehung.», «Anna und Fabia haben geheiratet. Ihnen ist es ernst.», «Robert ist bereit, seinen flatterhaften Eskapaden abzuschwören und eine ernsthafte Beziehung aufzubauen.», «Spätestens ab Vierzig sollte man schon eine ernste Beziehung anstreben.»

Ernsthafte Beziehungen ernten in unserer Gesellschaft üblicherweise Applaus und Unterstützung. Jedenfalls ist für viele etwas Ernstes gleichbedeutend mit etwas Positivem und demzufolge etwas Erstrebenswertem.



Auf der anderen Seite hat das Unstete, das Flatterhafte, das Promiske etwas Anrüchiges. «Melanie meint es gar nicht ernst mit Beat. Sie betrügt ihn.», «Ralf und Kai leben eine offene Beziehung, nichts Ernstes.», «Felix ist total beziehungsunfähig. Er kann nichts Ernsthaftes eingehen.»

Gemäss dieser gängigen Perspektive auf das Wesen von Beziehungen muss man sich also zwischen etwas Ernsthaftem und etwas Flatterhaftem entscheiden. Entscheidet man sich für etwas Flatterhaftes, hat man zwar seinen Spass, doch scheinbar keine Verbindlichkeit, also nichts Richtiges. Will man umgekehrt etwas Ernsthaftes, ist ganz offensichtlich Schluss mit lustig im Sinne sexueller Freizügigkeit.

Doch stimmt das? Kann man nicht beides haben, also eine Beziehung in Verbundenheit und gleichzeitig sexuellen, nicht ausschliesslich an die eine Partnerin oder den einen Partner gebundenen Spass zugleich? Nimmt man in diesem Fall seine Beziehung zu wenig ... na eben: zu wenig ernst?

Hier gibt es kein Richtig oder Falsch. Aber es gibt ein Authentisch. Sich darum redlich zu bemühen, ist die beste Voraussetzung dafür, dass eine bestehende Beziehung langfristige Zukunft hat. Dies wiederum setzt eine ehrliche Kommunikation zwischen den beteiligten Partner/innen voraus, ebenso wie eine nachhaltige Auseinandersetzung mit den dadurch angestossenen Ängsten, namentlich mit Eifersucht respektive schlechtem Gewissen. Dies stellt tatsächlich eine grosse Herausforderung dar. Doch sie nicht anzugehen, bedeutet für Menschen mit einem starken Animus auf der Sexualenergieebene entweder dessen Unterdrückung oder ein Doppelleben zu führen – oft mit grosser Schuld und Scham.

Kolumnist Tim K. Wiesendanger ist Autor des Buches «Abschied vom Mythos Monogamie: Wege zur authentischen Beziehungsgestaltung».
Kolumnist Tim K. Wiesendanger ist Autor des Buches «Abschied vom Mythos Monogamie: Wege zur authentischen Beziehungsgestaltung».
Bild: zVg

Auch Singles, die aufgrund gescheiterter Beziehungen desillusioniert sind und daher schon gar keine festen Partnerschaften mehr eingehen wollen, bleibt die Auseinandersetzung mit dem Thema nicht erspart. Vielleicht – wenn sie nunmehr ihr wahres Bedürfnis besser erkennen, benennen können und wissen, dass sie nicht «krank» sind – besinnen sie sich nochmals anders. Gut möglich entspricht ihnen nämlich schlicht die «ganz normale» Zweierkiste nicht, hingegen eine sexuell offene Partnerschaft sehr wohl.

Dies bedeutet, seine Karten von Anfang an offenzulegen. Wenn also Singles jemanden kennenlernen und sie sich mit ihr oder mit ihm tatsächlich eine Beziehung wünschen, hingegen keine sexuelle Ausschliesslichkeit, dann heisst das Rezept: Sprich offen darüber!

Für einen starken Animus in der Sexualität muss man sich nämlich ebenso wenig schämen wie für eine starke Anima. Ausserdem schliesst ein starker Animus auf der Sexualenergieebene eine starke Anima auf der Herzenergieebene nicht aus. So bekommt auch der moralisierende Begriff «Treue» eine neue und meines Erachtens wesentlich weiterführende Dimension.

«Die Kolumne»: Ihre Meinung ist gefragt

In der Rubrik «Die Kolumne» schreiben Redaktorinnen und Redaktoren von «Bluewin» regelmässig über Themen, die sie bewegen. Leserinnen und Leser, die Inputs haben oder Themenvorschläge einreichen möchten, schreiben bitte eine E-Mail an: redaktion2@swisscom.com.

Zurück zur Startseite