Bötschi fragt Barbara Bleisch «Nur wer bereit ist zu verlieren, kann auch wirklich lieben»

Bruno Bötschi

7.9.2024

«Ich schätze Ambivalenzen und liebe Zwischentöne. Hitze, die mich nicht mehr richtig denken lässt, und ewige Dunkelheit mag ich dagegen weniger»: Barbara Bleisch.
«Ich schätze Ambivalenzen und liebe Zwischentöne. Hitze, die mich nicht mehr richtig denken lässt, und ewige Dunkelheit mag ich dagegen weniger»: Barbara Bleisch.
Bild: Mirjam Kluka

Barbara Bleisch beschreibt in ihrem Buch «Mitte des Lebens» diese Phase des Lebens als besonders glücklich. Ein Gespräch mit der Philosophin über das Älterwerden –  und wieso Krisen den Menschen stärker machen.

Bruno Bötschi

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Philosophin Barbara Bleisch (51) beschreibt in ihrem Buch «Mitte des Lebens – Eine Philosophie der besten Jahre» diese Lebensphase als Zeit der Fülle und des Glücks.
  • Die Moderatorin der SRF-Sendung «Stern­stunde Philosophie» erklärt in ihrem Werk, worauf es in den mittleren Jahren ankommt.
  • Das Buch von Bleisch hat ein grosses Echo ausgelöst und steht seit Wochen in den Bestseller-Listen weit oben.
  • «Bis heute herrscht die Erzählung der mittleren Jahre als Krisenzeit vor. Aber es kann nicht sein, dass sich diese gesamte Lebensphase für alle Menschen nur kompliziert anfühlt», sagt Bleisch im Gespräch mit blue News.
  • Und weiter: «Ich bin überzeugt, dass sich viele damit nicht identifizieren können und sich nach einer Korrektur sehnen.»

Barbara Bleisch, ich stelle Ihnen in den nächsten 30 Minuten möglichst viele Fragen. Und Sie antworten bitte möglichst kurz und schnell. Wenn Ihnen eine Frage nicht passt, können Sie auch einmal «weiter» sagen.

Ich bin gespannt.

Berg oder Tal?

Berg. Ich mag die Aussicht auf einem Gipfel und dass ich auf einem Berg einen Überblick bekomme. Das gibt einem die Möglichkeit, auf Distanz zu gehen zu Themen, die einem zu stark auf die Pelle rücken.

Sommer oder Winter?

Herbst. Ich schätze Ambivalenzen und liebe Zwischentöne. Hitze, die mich nicht mehr richtig denken lässt, und ewige Dunkelheit mag ich dagegen weniger. Ich weiss aus Erfahrung, dass mir Kälte und der Rückzug in die Vereinzelung auf Dauer nicht gut bekommen. Was ich hingegen mag, sind Schauspiele der Natur, etwa wenn die Sonne durch den Nebel bricht.

Hazel Brugger oder Patti Basler?

Patti Basler. Ich liebe ihr neues Programm und mag ihren politischen Humor. Hazel Brugger habe ich seltener live gesehen, Patti Baslers Schaffen verfolge ich dagegen seit Jahren.

Wann hat sich das Älterwerden letztmals so richtig gut angefühlt?

(Überlegt) Das Älterwerden fühlt sich fast jeden Tag auch ein bisschen gut an – vor allem dann, wenn ich realisiere, dass ich mich mit zunehmendem Alter weniger frage, was andere wohl denken, und sich vieles bereits zurechtgeruckelt hat. Es sind die Momente, in denen ich realisiere, dass Lebenserfahrung etwas Schönes ist – und wie gut ich sie gebrauchen kann.

Zum Autor: Bruno Bötschi
Bild: blue News

blue News-Redaktor Bruno Bötschi spricht für das Frage-Antwort-Spiel «Bötschi fragt» regelmässig mit bekannten Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland. Er stellt ihnen ganz viele Fragen – immer direkt, oft lustig und manchmal auch tiefsinnig. Dabei bleibt bis zur allerletzten Frage immer offen, wo das rasante Pingpong hinführt.

Wann haben Sie sich das letzte Mal geschämt?

Als ich kürzlich die Pralinenschachtel meines Mannes leergegessen habe.

Sie sind 51 Jahre alt. Schämen Sie sich heute mehr oder weniger als früher?

Weniger.

Was dachten Sie, als Ihnen der «Spiegel»-Kulturredaktor Tobias Becker im Interview sagte: «Ich habe Ihr Buch «Mitte des Lebens» im Zug gelesen und den Umschlag vorher abgenommen. Mir wäre es unangenehm gewesen, von Mitreisenden damit gesehen zu werden.»

Das fand ich ehrlich gesagt wahnsinnig lustig, denn ich hatte mir das bis dahin nicht überlegt. Gleichzeitig war es ein weiterer Hinweis darauf, dass es Menschen gibt, für die sich die Mitte des Lebens peinlich anfühlt. Eine Tatsache, die mit ein Grund ist, warum ich das Buch geschrieben habe.

Ist der «Spiegel»-Journalist der einzige Mensch, dem die Lektüre Ihres Buches peinlich war – oder haben Sie noch weitere solche Reaktionen erhalten?

Bisher nicht. Nach dem Interview mit Tobias Becker sprachen wir lustigerweise in meinem Freundeskreis darüber, welche Bücher uns zu peinlich wären, um sie in der Öffentlichkeit zu lesen. Während der Diskussion erinnerten wir uns an die Zeit zurück, als der Erotikfilm «Fifty Shades of Grey» in den Kinos lief. Damals waren immer wieder Frauen zu sehen, die den gleichnamigen Roman lasen – ihn aber vorsichtshalber in Packpapier eingewickelt hatten.

Mir persönlich ist nicht das Älterwerden an sich peinlich, sondern dass ich viel älter bin als die meisten meiner Arbeitskolleg*innen in der blue News Redaktion. Ich möchte nicht irgendwann den Satz hören: «Der Bötschi macht immer so auf jung, der ist nur noch peinlich.» Geht es Ihnen ähnlich?

Nein – also zumindest glaube ich, dass ich nicht ständig auf jung mache. Möglicherweise hat das damit zu, dass ich Mutter von zwei Teenagertöchtern bin. Ich finde nichts schrecklicher, als wenn Eltern sich am Kleiderschrank der eigenen Kinder bedienen.

Aber was heisst schon auf jung machen? Die Werte und Normen, die wir heute mit typischen Lebensläufen in Zusammenhang bringen, haben sich gewandelt und sind zum Glück nicht mehr so starr wie früher. Das Alter hat an Relevanz doch eher verloren. Was ich aber auch schon kenne, ist die Feststellung, dass ich plötzlich in der Minderheit bin.

Wie meinen Sie das?

Die Medienlandschaft verändert sich im Moment stark. Es verabschieden sich auffällig viele Menschen in den mittleren Jahren aus dem Journalismus – aus welchen Gründen auch immer. Und so kann es passieren, dass man plötzlich zur alten Garde gehört und irgendwann feststellt, dass die Praktikantin das eigene Kind sein könnte.

Das hat etwas Ambivalentes. Ich beurteile das nicht nur negativ – vor allem dann nicht, wenn ein Betrieb es zulässt, dass ältere Mitarbeiter eine Senior-Rolle übernehmen, also Verantwortung für die nachrückende Generation übernehmen dürfen. Das finde ich etwas Schönes.

Gab es andere Reaktionen auf Ihr Buch, die Sie so nicht erwartet hätten?

(Überlegt einen Moment) Sie stellen mir schwierige Fragen. Ich hätte nicht erwartet, dass mein Buch ein so grosses Echo auslösen würde. Vor wenigen Tagen gingen bei meinem Verlag die ersten Anfragen für Lizenzen ein – und zwar aus China und Korea.

Ihr Buch steht seit Wochen in den Bestseller-Listen weit oben. Was denken Sie, warum sind die Menschen so stark am Thema «Mitte des Lebens» interessiert?

Bis heute herrscht die Erzählung der mittleren Jahre als Krisenzeit vor. Aber es kann nicht sein, dass sich diese gesamte Lebensphase für alle Menschen nur kompliziert anfühlt. Ich bin überzeugt, dass sich viele damit nicht identifizieren können und sich nach einer Korrektur sehnen.

«Das Älterwerden fühlt sich fast jeden Tag auch ein bisschen gut an – vor allem dann, wenn ich realisiere, dass ich mich mit zunehmendem Alter weniger frage, was andere wohl denken, und sich vieles bereits zurechtgeruckelt hat»: Barbara Bleisch.
«Das Älterwerden fühlt sich fast jeden Tag auch ein bisschen gut an – vor allem dann, wenn ich realisiere, dass ich mich mit zunehmendem Alter weniger frage, was andere wohl denken, und sich vieles bereits zurechtgeruckelt hat»: Barbara Bleisch.
Bild: Mirjam Kluka

Möglicherweise freuen sich deshalb jetzt so viele Menschen darüber, dass sich endlich ein Buch mit den positiven Aspekten der Mitte des Lebens auseinandersetzt.

Ja, wer weiss. Es ist sowieso auffällig, wie viele Menschen sich aktuell damit beschäftigen, welche spezifischen Fragen sich ihnen in den verschiedenen Lebensphasen stellen. Es erscheinen gerade viele Bücher über das Älterwerden und das Sterben.

Und eine ganze Reihe von jungen Autorinnen und Autoren fragt sich, wie sie ihr Leben gestalten wollen und was sie von der Leistungsgesellschaft halten sollen, die sie von den Erwachsenen vorgelebt bekommen haben. Insofern scheint es mir an der Zeit, dass auch wir Lebensmittigen darüber nachdenken, was unseren Blick aufs Leben ausmacht.

«In der Philosophie ist die Mitte des Lebens ein unerforschtes Gebiet im Gegensatz zur Kindheit und Jugend oder zum Alter und Sterben», sagten Sie kürzlich im Interview mit der «NZZ». Könnte diese Unerforschtheit mit ein Grund sein für das Interesse am Thema?

Philosophisch gesehen ist die Mitte des Lebens eine komplett vernachlässigte Lebensphase. Es gibt gerade einmal zwei englischsprachige Publikationen, die sich konsequent um diese Lebensphase bemühen – ansonsten ist Ödnis angesagt. Bleibt die Frage: Warum wird die Mitte des Lebens von den Philosophen einfach ausgelassen?

Und haben Sie eine Antwort gefunden?

Eine bösartige Antwort wäre, dass die ganze Philosophie-Geschichte nichts anderes ist als eine Erzählung von mittelalten weissen Männern. Na gut, habe ich mir gesagt, dann kommt jetzt noch eine Erzählung einer mittelalten Frau dazu. Meiner Ansicht nach macht es jedoch einen grossen Unterschied, ob ich mit 25 oder mit 45 über Themen wie Reue und Bedauern nachdenke.

Der Grund, warum ich das NZZ-Interview sofort gelesen habe, war der Titel «Wer mit 50 findet, er sei noch 30, tut mir einfach nur leid». Ich dachte, Sie hätten etwas dagegen, sich auch in der Mitte des Lebens noch jung zu fühlen. Ich musste dann aber feststellen, dass Ihre Aussage arg verkürzt wiedergegeben wird.

Ist das nicht immer so mit Titeln?

Ich hoffe nicht. Im Interview sagen Sie: «Wer mit 50 findet, er sei noch 30 und habe keine Lebenserfahrung gesammelt, tut mir leid.»

Ich strich im NZZ-Interview explizit die beiden Wörter «einfach» und «nur». Die Aussage klingt im Titel fast bösartig – und das wollte ich nicht. Was ich sagen wollte, war vielmehr, dass ich nicht recht verstehe, was wir meinen, wenn wir sagen: «Ich fühle mich viel jünger, als ich bin.» Oft wollen wir doch einfach nicht wahrhaben, wie alt wir sind.

Manche meinen damit vielleicht aber auch, dass unsere Eltern mit 50 deutlich älter wirkten, als wir es heute tun. Da ist sicher etwas dran. Heute gestehen wir uns zu, dass wir in gewisser Hinsicht länger jung bleiben dürfen. Wir sind heute nicht mehr darauf festgelegt, dass wir mit 50 nicht mehr Skateboard fahren dürfen und mit 60 braune Strickjacken tragen müssen. Und das ist gut so.

Was mögen Sie an der Aussage «Ich fühle mich viel jünger, als ich bin» nicht?

Ich lese immer öfter, dass 60 das neue 30 sei. Oder 70 das neue 50. Ich frage mich dann jeweils, wo die Jahre dazwischen geblieben sind. Die können wir doch nicht einfach streichen ohne Verluste. Denn hoffentlich waren das auch Jahre, in denen wir nicht nur älter wurden, sondern auch neue Erfahrungen gemacht haben und an ihnen gewachsen sind.

Wenn Sie von Lebenserfahrungen reden, die ein Mensch bis 50 sammeln sollte, was meinen Sie damit konkret?

Es gibt so viele Dinge, die wichtig sind im Leben, die wir aber nur durch das eigene Erleben kennen lernen können – sie also nicht in der Schule lernen. Beispielsweise zu wissen, wie weh es tut, wenn ich um einen Angehörigen trauere. Oder wie sich Liebeskummer oder Heimweh anfühlen. Solche Dinge müssen wir am eigenen Leib erfahren, um zu wissen, wie sich das anfühlt und wie wir diese Situationen meistern. Solche Erfahrungen sind wichtig für unsere Entwicklung, damit wir mit zunehmendem Alter souveräner werden können – und uns gewisse Erfahrungen, so furchtbar sie auch sein mögen, nicht aus der Bahn werfen.

Darum sind Lebenserfahrungen so kostbar.

So ist es. Jeder Mensch erlebt Situationen, die ihn herausfordern und während denen er denkt, dass er sie nicht überleben und danach nie mehr wirklich glücklich werden kann. Mit zunehmender Lebenserfahrung lernen wir, dass dem nicht so ist. Das heisst aber nicht, dass schlimme Erlebnisse keine Narben hinterlassen – aber sie machen uns auch lebensklüger und erleichtern uns später Entscheidungen zu fällen, weil wir genauer wissen, was wir wollen und was nicht. Nicht zuletzt auch deshalb, weil wir irgendwann erkennen, dass der Brei oft heisser gekocht, als er gegessen wird.

Haben die Probleme der Menschen mit dem Älterwerden vielleicht auch damit zu tun, dass wir uns immer mehr der Endlichkeit des Lebens bewusst werden. Oder konkret gefragt: Haben Sie heute mehr Angst vor dem Tod?

Ja, natürlich hat das damit zu tun. Ich selber habe nicht mehr Angst vor dem Tod. Obwohl ich es schon sehr bedrohlich finde, wie viele Wochen mir, also bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung, noch bleiben.

Wie viele sind es?

Etwas mehr als 1500 Wochen.

So wenig?

Im ersten Moment dachte ich das auch. Und ja, da kann einen in einem schwierigen Moment schon einmal das Grauen überfallen. Ich finde das Leben grossartig. Gleichzeitig habe ich mich in der Vergangenheit aber auch schon intensiv mit dem Tod auseinandergesetzt.

Wieso das?

Ich habe einen sehr guten Freund überraschend früh im Leben verloren. Das machte mir zu schaffen und gab mir viel zu denken. Viele Menschen machen erst in der Mitte des Lebens erste Erfahrungen mit dem Tod – also wenn die Grosseltern oder die Eltern sterben. Ich verstehe darum, dass das Sterben und der Tod in der Mitte des Lebens bedrohlich auf uns wirken können, gleichzeitig ermöglicht uns das aber auch, ernst zu machen mit dem, was wir wollen. Es bleibt eben nicht ewig Zeit.

Hat sich Ihre Beziehung zum Tod mit dem Älterwerden verändert – etwa als Sie Mutter geworden sind?

Das ist eine lustige Frage. Ich würde sagen, eine Geburt verändert zuerst die Beziehung zum Leben. Ich schenke einem Kind das Leben, und wenn alles gut geht, muss man dieses Leben nicht so schnell wieder loslassen. Gleichzeitig hat eine Geburt auch etwas Tröstliches, weil man mit eigenen Augen sieht, dass das Leben weitergeht.

Ein Thema, mit dem sich auch der US-amerikanische Philosoph Samuel Scheffler beschäftigt hat. In seinem Buch «Death and the Afterlife» stellt er die Frage, wie wir reagieren würden, wenn wir wüssten, dass morgen die Welt untergeht. Scheffler meint, unser Leben wäre komplett sinnlos.

«Wir sind heute nicht mehr darauf festgelegt, dass wir mit 50 nicht mehr Skateboard fahren dürfen und mit 60 braune Strickjacken tragen müssen. Und das ist gut so»: Barbara Bleisch.
«Wir sind heute nicht mehr darauf festgelegt, dass wir mit 50 nicht mehr Skateboard fahren dürfen und mit 60 braune Strickjacken tragen müssen. Und das ist gut so»: Barbara Bleisch.
Bild: Mirjam Kluka

Denn wenn wir wüssten, dass mit unserem Tod die Welt sang- und klanglos verschwände, würden wir aller kategorischen Wünsche beraubt, die unser Leben ausmachen und woran uns wirklich liegt. Wieso sollen wir zum Beispiel Krebsforschung betreiben, wenn wir wissen, dass in fünf Jahren die Welt untergeht?

Oder warum sich für eine bessere Verkehrsführung im eigenen Wohnquartier einsetzen oder gegen Rassismus in der Schweiz kämpfen, wenn schon bald alles vorbei ist? Wir Menschen sind darauf angewiesen, dass Dinge weitergehen und uns auch überleben.

Was hätten Sie mit 18 gern gewusst, was Sie heute wissen?

Wenn ich es mit 18 gewusst hätte, wäre ich heute nicht die, die ich bin.

Mit 18 nahm ich mir vor, im Alter nicht langweilig zu werden und immer mit offenen Augen durch das Leben zu gehen.

Solche Vorsätze habe ich mir nicht gemacht.

Als junger Erwachsener nervte mich, wenn Leute sagten: «Das mache ich nicht mehr, dafür bin ich zu alt.»

Mich nervt viel mehr der Imperativ in unserer Gesellschaft, was ein Mensch alles unbedingt noch machen und erleben muss vor seinem Tod. Ich bin eine Verfechterin der Bleibefreiheit und finde es angenehm, nicht immer alles zwingend ausprobieren zu müssen. Das heisst aber nicht, dass wir mit zunehmendem Alter immer schlaffer werden sollen.

Sondern?

Ein Vorteil der mittleren Jahre ist, dass wir eher den Mut haben, gewisse Dinge auch ganz bewusst nicht mehr zu tun – ganz nach dem Motto «Dazu sage ich ab sofort: Nein, danke».

Mir persönlich machte 40 Jahre alt zu werden deutlich mehr Mühe, als 50 zu werden. Wie erging es Ihnen dabei?

Mich hat ehrlich gesagt mein 30. Geburtstag noch mehr bedrängt.

Wieso das?

Damals sagte jemand aus meinem Umfeld zu mir: «Willkommen im Klub, jetzt hast du auch eine Drei auf dem Rücken.» Das klang nicht besonders freundlich und tatsächlich hat es sich für mich auch ein bisschen so angefühlt, weil ich mit 30 auch den Eindruck hatte, ich müsste noch so unfassbar viel werden, aber gleichzeitig hatte ich das Gefühl, die Zeit renne mir davon.

Damals dachte ich, ich bräuchte endlich einen anständigen Beruf und müsste auch bald entscheiden, ob ich eine Familie will. Mein 30. Geburtstag fühlte sich deshalb viel schwieriger an. Mit 40 war ich glücklicher und 50 machte mir keine Schwierigkeiten. Ich feierte damals eine grosse Party.

Ich veranstaltete an meinem 49. Geburtstag ein grosses Fest.

Auch schön.

Die Mitte des Lebens liegt in der Schweiz bei knapp 40 Jahren. Gleichzeitig wird immer behauptet: Im Alter von 40 sei der Tiefpunkt der Glückskurve erreicht. Danach werde es wieder besser. Was halten Sie von dieser Aussage?

Die Studien von Blanchflower und Oswald sind auch schon älter und nicht unumstritten. Entwicklungspsychologen zeichnen die sogenannte U-Kurve der Lebenszufriedenheit mit der Talsohle in den mittleren Jahren heute weitaus flacher. Vor allem aber haben Sozialwissenschaftler einen anderen Glücksbegriff als wir Philosophen. Ich sage immer, wer denkt, dass ein glückliches Leben vor allem aus satter Zufriedenheit besteht, der irrt sich.

Woraus besteht Ihrer Ansicht nach ein gutes Leben?

Ein gutes Leben ist ein Leben in Fülle, aber zu dieser Fülle gehört es manchmal auch, traurig zu sein, Verluste zu erleiden und zu verzweifeln. Das hat damit zu tun, dass wir Menschen verletzliche Wesen sind, also auch einmal etwas riskieren können im Leben – und das meiner Meinung nach auch unbedingt immer wieder tun sollen. Nur wer wagt und bereit ist, auch einmal zu verlieren, kann zum Beispiel auch wirklich lieben.

Frau Bleisch, nachdem Sie sich intensiv mit der Mitte des Lebens auseinandergesetzt haben: Haben Sie den Leser*innen von blue News zwischen 40 und 50 konkrete Tipps, damit sie die U-Kurve des Glücks einigermassen leichtfüssig hinter sich bringen können – oder reicht dafür die Lektüre Ihres neuen Buches?

Wer mein Buch liest, merkt rasch, dass ich keinen Ratgeber geschrieben habe. Deswegen habe ich jetzt auch keine Tipps auf Lager. Philosophie lässt sich nicht einfach in ein paar wenige Tipps giessen oder zusammenfassen. Ich glaube vielmehr, dass es hilfreich ist, unsere Ratlosigkeit, die wir alle hin und wieder empfinden, weil das Leben eine ernste Aufgabe ist, zur gemeinsamen Sache zu machen, so wie das auch die Denkerin Hannah Arendt gesagt hat.

Die entsprechende Idee dazu fand ich auch im Roman «Auf allen vieren» von Miranda July. Darin beschliesst die Hauptfigur, in Zukunft einen Open-Source-Tag abzuhalten: Gemeinsam darüber zu brüten, wie wir besser durchs Leben kommen. Darum geht es: Lasst uns gemeinsam ins Gespräch kommen und überlegen, welche Erfahrungen wichtig sind, was uns guttut und was weniger. Ich bin der festen Überzeugung, so wird das Leben für uns alle leichter.

Meinen Lieblingssatz in Ihrem Buch fand ich übrigens auf Seite 141 – dort zitieren Sie Bertolt Brecht: «Die guten Leute erkennt man daran, dass sie besser werden, wenn man sie erkennt. Die guten Leute laden ein, sie zu verbessern, denn wovon wird einer klüger? Indem er zuhört und indem man ihm etwas sagt.»

Das freut mich.

Welche Aussagen über die Mitte des Lebens mögen Sie ganz besonders?

Mich haben alle Themen und Fragen im Buch inspiriert, sonst hätte ich nicht darüber schreiben können. Aber die grösste Entdeckung war für mich das Kapitel, in dem es um den Glanz des Lebens geht.

Am Ende Ihres Buches erwähnen Sie den britischen Philosophen Bertrand Russell. Im Prolog zu seiner 1969 erschienen Autobiografie schreibt er, dass er sein Leben gern noch einmal leben würde – und zwar bedingungslos. Würden Sie auch nichts ändern wollen, wenn Sie ihr bisheriges Leben nochmal leben dürften?

Im Buch schreibe ich, ich wünschte mir einmal auch so sterben zu können. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ich weiss, dass Bertrand Russell alles andere als ein einfaches Leben hatte. Ich glaube tatsächlich auch, dass mich komplizierte und schwierige Ereignisse im Leben ganz wesentlich geprägt haben. Gleichzeitig denke ich manchmal aber auch, dass gewisse Schwierigkeiten nicht hätten sein müssen – vor allem, wenn ich an Situationen denke, in denen ich anderen Menschen wehgetan habe und mir das im Nachhinein leidtut.

«Mitte des Lebens – Eine Philosophie der besten Jahre», Barbara Bleisch, 272 Seiten, Hanser Verlag, ab 24 Fr.


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