Interview Teo Gheorghiu: «Ich spiele nichts, was mich nicht berührt»

Von Hanspeter «Düsi» Künzler

26.12.2020

«Nicht viele Promoter würden es für eine gute Idee halten, dass ihr Pianist mit dem Fahrrad unterwegs ist»: Teo Gheorghiu.
«Nicht viele Promoter würden es für eine gute Idee halten, dass ihr Pianist mit dem Fahrrad unterwegs ist»: Teo Gheorghiu.

Auf einer Velotour nach Spanien lüftete Teo Gheorghiu den Kopf aus. Der Schweizer Pianist («Vitus») über den Hang zu verrückten Abenteuern, sein neues Album und seine grosse Leidenschaft, den englischen Fussball.

Auf den Flügeln des Klavieres segelte Teo Gheorghiu aus dem Zürcher Oberland in die weite Welt hinaus. Sein Talent wurde früh erkannt. So zog er schon als 9-Jähriger von Rüti ZH nach London in die Purcell School, ein Internat für musikalisch hochbegabte Kinder.

Quasi en passant wurde er mit seiner Rolle im Film «Vitus» Filmstar, aber das liegt lange zurück. Inzwischen ist er zum gefragten Konzertpianisten herangereift, der auf den Bühnen der ganzen Welt zu Hause ist und eine Handvoll vielgelobte Alben veröffentlicht hat.

Aber Teo Gheorghiu war nicht ganz glücklich mit der Situation, in die er sich hineinmanövriert hatte. Flugs sprang er aufs Velo und radelte von London nach Spanien. Die spontane Fahrt führte ihn führte ihn weit über Spanien hinaus. Davon zeugt sein neues Album, ein beredter Reisebericht der Emotionen, betitelt «Duende», mit Kompositionen von Enrique Granados, Isaac Albéniz, Claude Debussy, Maurice Ravel und Manuel de Falla.

Der bekannten Umstände wegen treffen sich Teo Gheorghiu und der Journalist von «blue News» über Skype; der Musiker in seinem Studio in Fribourg, wo der Vater einer einjährigen Tochter inzwischen lebt, der Schreibende in seinem Büro in London.

Gheorghiu spricht akzentfreies Zürichdeutsch, erkundigt sich aber höflich, ob man das Interview auch auf Englisch führen könnte: Nach all den Jahren in englischsprachigen Ländern falle ihm dies einfach leichter.

Herr Gheorghiu, im Hintergrund sehe ich einen Konzertflügel, ein schwarzes Velo und ein leeres Büchergestellt. Ist das alles, was Sie zum Leben brauchen? Nebst der Familie natürlich …

Nicht zu vergessen der Laptop, vor dem ich sitze. Das Studio ist nicht der Ort, wo ich wohne, es ist der Ort, wo ich arbeite. Wobei, Arbeiten will ich es nicht nennen. Meine ganze Kreativität ist hier zu Hause, in diesem Instrument. Ich bin sehr glücklich, endlich mit meinem Flügel wiedervereint zu sein. Während der ganzen Londoner Zeit war er in einem Lagerhaus in Bülach eingestellt.

Ist dies das Fahrrad, mit dem Sie nach Spanien geradelt sind?

Nein, jenes Gerät steht zu Hause. Dieses hier habe ich einem Deal zu verdanken. Es ging um eine Tournee in der Provinz Quebec in Kanada. Ich hatte die Idee, von Ort zu Ort das Velo zu benützen, und der Promoter, ein überaus aufgeschlossener Mensch, willigte ein. Das Rad war Teil der Gage. Nicht viele Promoter würden es für eine gute Idee halten, dass ihr Pianist mit dem Fahrrad unterwegs ist. Jedes Mal, wenn ich das Velo besteige, werde ich daran erinnert, wo die Reise begann – mit der Tournee von Quebec.

Teo Gheorghiu: «Die Velotour nach Spanien war ein erster Schritt in die richtige Richtung – eine Wiederverbindung mit meinen Instinkten.»
Teo Gheorghiu: «Die Velotour nach Spanien war ein erster Schritt in die richtige Richtung – eine Wiederverbindung mit meinen Instinkten.»
Bild: Patrice Schreyer

Haben Sie zufälligerweise die «Bicycle Diaries» von David Byrne gelesen, dem Sänger der Talking Heads? Dieser nahm überall hin sein Fahrrad mit und hat ein wunderbares Buch darüber geschrieben.

Kenne ich nicht, aber ich notiere es mir gleich. Gerade lese ich mein zweites Buch auf Französisch. Es heisst «Socrate à Velo» und ist von Guillaume Martin, dem Velorennfahrer, er war King of the Mountain in der diesjährigen Tour de France. Ein verspieltes Buch über Philosophie und Velofahren. Ich muss ja auch mein Französisch verbessern.

Wie sind Sie auf die verrückte Idee mit der Fahrt nach Spanien verfallen?

Vor allem einmal tat sich die rare Gelegenheit eines leeren Terminkalenders auf. Gleichzeitig hatte ich gerade eine eher schwierige Zeit. Aber ich war fit, spielte jede Woche zwei Mal Fussball und bewegte mich in der ganzen Stadt nur mit dem Fahrrad. Der Entschluss war spontan. Ich kaufte mir ein neues Fahrrad, zwei, drei Wochen später fuhr ich los. Es war ein erster Schritt in die richtige Richtung – eine Wiederverbindung mit meinen Instinkten.

Was steckte im Rucksack?

Eine ziemlich grosse Packung Waschflüssigkeit. Das war ein Fehler. Sie bekam ein Leck und der ganze Rucksack war voll von dem Zeug. Sonst hatte ich nicht viel dabei. Einige T-Shirts und zwei Paar Cycling-Shorts, die ich jeden Tag von Hand gewaschen habe.

Wie lang waren Sie unterwegs?

Dreieinhalb Wochen. Das diktierten die Umstände. Ich hatte mich auf Konzerte vorzubereiten. Sechs Wochen hatte ich mir gegeben, um das zweite Klavierkonzert von Beethoven einzustudieren. Zu meiner Überraschung schaffte ich es in zwei. All diese Wochen eingetaucht in die Musik der Natur und in Harmonie mit meinem Körper – ich war so richtig bereit für Neues.

Haben Sie auf der Fahrt Musik gehört?

Nicht einen Ton. Sowieso, beim Radfahren höre ich keine Musik. Ich will meine Umgebung spüren. Mit Stöpseln in den Ohren wäre ich definitiv nie in die Nähe des «Duende» gekommen. Es wäre ja auch gefährlich. Wenn man auf dem Velo sitzt müssen alle Sinne wach bleiben.

Also nicht wie Fahrradkuriere in London mit ihren Kopfhörern und dem halsbrecherischen Tempo.

Fahrradfahren – etwas vom wenigen, das ich von London her vermisse. Klar, auch hier in Fribourg sitze ich oft auf dem Velo. Lange Touren, die Natur, alles sehr schön. Aber die Video-Game-Verrücktheit, der Adrenalinrausch von London, das ist was ganz anderes. Ich liebe das.

Wo in London haben Sie eigentlich gelebt?

Zuerst in Bushey bei Watford, wo sich die Purcell-Schule befindet.

Aha – dort besuche ich ab und zu ein Spiel des FC Watford, dem Verein, mit dem Elton John verbunden ist.

Wirklich!? Mann, ich war oft im Vicarage-Road-Stadion. Die Schule hatte ein paar Saison-Karten. Unter Aidy Boothroyd spielten wir eine Saison lang sogar in der Premier League. Rein sportlich gesehen eine einzige Tragödie, wir verloren praktisch jedes Spiel, der Fussball war schrecklich. Aber die Erinnerungen sind herrlich.

Irgendwo glaube ich aber gelesen zu haben, dass Sie Manchester-United-Supporter seien?

Noch in der Primarschule in der Schweiz bin ich irgendwie United-Supporter geworden. Bin ich eigentlich heute noch. Lange nach der Watford-Zeit studierte ein guter Freund am Royal Northern College of Music in Manchester. Manchmal bin ich hinaufgefahren und wir sind zusammen ans Spiel gegangen. So verlottert das «Vic» in Watford war, ich habe dennoch mehr schöne Erinnerungen daran als an Old Trafford. Man kannte im «Vic» all die Menschen rundum, es war ein echtes Gefühl von Gemeinschaft.



Wie definieren Sie eigentlich dieses «Duende»?

Es ist ein Seinszustand. Ein extremes Gefühl, das heutzutage oft im Zusammenhang mit Flamenco auftaucht. Aber ich erlebte diesen Zustand auch auf dem Velo. In der Natur, in der Brutalität und der Weite von Andalusien, in der Hitze. Natürlich kann es auch Musik sein. Ein Gefühl, das dich packt, und du kannst ihm nicht entweichen, bis es sich ausgelebt hat. Als Performer würde ich unter Kollegen wohl den Ausdruck «You’re in the zone» verwenden. Wenn man als Musiker Stücke interpretiert, die vor langer Zeit komponiert wurden, sehe ich «Duende» in der Verbindung zwischen dem Komponisten und dem Publikum. Wenn diese Verbindung in Gang kommt, das ist der «Duende»-Moment in einem klassischen Konzert.

Wie haben Sie die Stücke für das Album ausgewählt?

Als ich von meiner Odyssee zurückkam, realisierte ich, dass weder die unzähligen Fotos, die ich gemacht hatte noch die Storys, die ich erzählte, dieser Erfahrung wirklich gerecht werden konnten. Zum Beispiel das Erlebnis, in der Altstadt von Valencia auf offener Strasse Flamenco zu hören! Nicht gerade ein Paco de Lucia zwar, aber doch grossartig. Ich hatte mich seit vielen Jahren mit verschiedensten Arten von Folk beschäftigt. Jetzt begann ich mich nach Musik umzusehen, die vom Flamenco beeinflusst war und die ich auch tatsächlich spielen konnte. Die meisten Stücke auf der CD hatte ich früher irgendwo gehört. Ich las einen Berg Noten, hörte mir Aufnahmen an und studierte die Stücke ein, die mir gefielen. Danach vertiefte ich die Vertrautheit mit Konzerten. Ich spiele nichts, was mich nicht berührt. So haben letztlich die Stücke überlebt, die mir am nächsten lagen.

Folk – da waren Sie in England ja genau richtig. All diese überlieferten Lieder aus der keltischen, englischen und schottischen Tradition. Wie gefallen Ihnen die?

Lustigerweise lässt mich englische, irische und amerikanische Folkmusik kalt. Die meisten anderen Folk-Stile, denen ich begegnet bin, berühren mich irgendwie. Ich liebe die Natur, und ich glaube, im Folk finden wir eine direkte Verbindung zwischen der Natur eines Ortes und seiner Kultur. Der Begriff «Nationalismus» wird heute ja sehr oft verwendet, und meistens in einem negativen Zusammenhang. Dabei gehen die positiven Werte, die damit verbunden sind, total verloren – die Verbindung mit einer Landschaft, einer Örtlichkeit, einer Kultur. Meine engste Verbindung mit Rumänien, wo meine Eltern herkommen, besteht über die Musik. Die Folk-Musik aus Rumänien geht mir ans Lebendige. Und in einem früheren Leben muss ich Brasilianer gewesen sein. Ich liebe Samba.

Teo Gheorghiu: «Als ich von meiner Odyssee zurückkam, realisierte ich, dass weder die unzähligen Fotos, die ich gemacht hatte noch die Storys, die ich erzählte, dieser Erfahrung wirklich gerecht werden konnten.»
Teo Gheorghiu: «Als ich von meiner Odyssee zurückkam, realisierte ich, dass weder die unzähligen Fotos, die ich gemacht hatte noch die Storys, die ich erzählte, dieser Erfahrung wirklich gerecht werden konnten.»
Bild: Patrice Schreyer

Auf ihren ersten drei Alben haben Sie unter anderen Schumann, Dvořák, Schubert und Liszt interpretiert. Ihr Herz tickt offenbar auch für die  Romantik und Spät-Romantik?

In den letzten Jahren bin ich der Romantik eindeutig nähergekommen. Ausserdem ist mein Ausblick internationaler geworden.

«Internationaler», wie meinen Sie das?

Ich beschäftige mich vermehrt mit Musik, die aus einer bestimmten Kultur oder einem Ort hervorgegangen ist, nicht nur aus der klassischen Tradition. Sicher, die Basis ist die Klassik, aber es steckt darin ein Folk-Element.

Ort und lokale Kultur sind wichtig für Sie. Sie selber wurden in Männedorf geboren, wuchsen in Rüti auf, wenn man dem so sagen kann, verbrachten ihre Teenagerjahre in Bushey, gingen mit 19 Jahren nach Philadelphia, kehrten nach London zurück, und jetzt sind Sie in Fribourg. Warum Fribourg?

Ich liebe London, immer noch. Aber gegen das Ende hin merkte ich, dass es zum Leben wohl doch nicht das Richtige ist für mich. Ich reise viel herum und brauche einen Ort mit viel Natur, wohin ich zurückkehren kann und die Batterien aufladen. In dem Sinn hat’s London fürwahr nicht gebracht. Da läuft ja immer alles im Hundertmeilentempo. Auch kam ich selten mehr dazu, die Vorzüge der Stadt zu geniessen, die Ausstellungen, Konzerte und Partys. Dann ergab sich ein guter Grund fürs Umziehen – die Liebe.

Sie sind ein Mann der Impulse und Leidenschaften!

Das wird so sein. Allerdings könnte ich nicht einmal für die Liebe an einem Ort wohnen, wo es mir nicht wohl wäre. Fribourg ist ein magischer Platz.

Ganz im Gegensatz offenbar zu Philadelphia. Warum gefiel es Ihnen dort nicht?

Dafür gab es mehrere Gründe. Der Wechsel von London in die USA fiel mir viel schwerer, als ich es erwartet hatte. Ich ging wegen einem bestimmten Lehrer hinüber, bekam aber einen anderen, das war frustrierend. Ich hatte eh eine persönliche Sinnkrise. Ich hatte mein musikalisches «Mojo» verloren, suchte neue Inspiration, fand aber keine. Weil ich meine Karriere so jung begonnen hatte, war auch der Erwartungsdruck sehr hoch. Dazu hatte ich Verpflichtungen, zum Beispiel meiner Agentur gegenüber. Ich verhielt mich professionell, erfüllte die Aufgaben zufriedenstellend. Aber es fehlte die Freiheit zum Experimentieren. Ich möchte die Zeit in Philadelphia nicht missen, sie hat mich zum Menschen gemacht, der ich bin. Aber ich musste unbedingt weg, und zwar schleunigst.

Sie sind dann zurück nach London gegangen.

Der Grund dafür war Hamish Milne, ein Lehrer, von dem ich glaubte, dass er mir helfen könnte. Ich dachte: Fuck it, hier ist meine letzte Chance und ich werde alles geben. Ich rief ihn an, und er akzeptierte mich als Schüler. Schritt für Schritt führte er mich zurück zu meinem «Mojo». Er zeigte mir, dass klassische Musik tatsächlich alles im Leben reflektieren kann.



Übrigens, wie sind Sie mit den Covid-Beschränkungen umgegangen?

Sechs Monate lang kein Konzert! In meiner ganzen Karriere hat es noch nie einen so langen Unterbruch gegeben. Das war das Schwierigste. Vom Publikum geht eine unglaubliche Energie aus, sei es die Vorfreude vor dem Auftritt, oder die angespannte Stille während des Auftrittes, oder der Applaus und die Gespräche nachher. Musik zu teilen, das ist mir das Wichtigste am Spielen, wenn nicht sogar im Leben.

Und was haben Sie mit der unfreiwilligen Auszeit getan?

Die Zeit hat mir die Möglichkeit gegeben, mich viel intensiver mit «Duende» zu beschäftigen, als ich es unter normalen Umständen hätte tun können. So schrieb ich etwa auch die Texte fürs CD-Büchlein, kümmerte mich überhaupt um jeden Aspekt des Projektes. Zuvor hatte ich keine Ahnung, wie viel man da selber machen kann! Früher wusste ich jeweils, was ich nicht wollte. Jetzt weiss ich, was ich will. Das ist ein überaus wichtiger und erfüllender Schritt.

Teo Gheorghiu, «Duende», Claves Records.

Zum Autor: Der Zürcher Journalist Hanspeter «Düsi» Kuenzler lebt seit bald 40 Jahren in London. Er ist Musik-, Kunst- und Fussball-Spezialist und schreibt für verschiedene Schweizer Publikationen wie die NZZ. Regelmässig ist er zudem Gast in der SRF3-Sendung «Sounds».

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