FamilienschicksalValentinas Bruder ist Autist: «Die Menschen sollen aufhören, uns anzustarren»
Von Bruno Bötschi
3.2.2021
Valentina ist zwölf. Am meisten liebt sie ihren jüngeren Bruder, auch wenn er manchmal nervt. Leonardo ist Autist. Heute Abend erzählt Valentina in der TV-Sendung «Mona mittendrin» über das Leben mit ihrem Bruder. Ein Interview.
Jedes Kind ist in seinem eigenen Kosmos unterwegs, jedes kommuniziert auf seine Weise. Vetsch trifft auf Leonardo. Er hat eine Autismus-Spektrum-Störung und spricht nicht. Dafür erzählt Valentina, seine Schwester, über das Leben mit ihrem Bruder: «Er ist speziell, aber irgendwie auch normal.»
Valentina mag es, sich Gedanken zu machen. Abzutauchen in die Welt, in der ihr Bruder Leonardo lebt. Es ist eine andere als ihre. Vor drei Jahren hat das Mädchen damit begonnen, Geschichten über ihren Bruder zu schreiben. Im Frühling 2020 sind diese in Buchform erschienen.
Valentina sagt, dass sie das Buch «Der Delfin in der Hängematte» geschrieben hat, weil sie möchte, dass die Menschen mehr über Autismus erfahren. «blue News»-Redaktor Bruno Bötschi hat im vergangenen April mit Valentina und ihrer Mutter Sonia gesprochen. Aus aktuellem Anlass publizieren wir das Gespräch heute nochmals.
Valentina, heute ist internationaler Welt-Autismus-Tag. Es ist ein besonderer Tag für dich, weil heute auch das Büchlein ‹Der Delfin in der Hängematte› mit deinen Texten über deinen Bruder Leonardo erscheint. Stolz?
Valentina: Ja.
Sehr stolz?
Valentina: Einfach stolz.
Wer hat dir zum ersten Mal erklärt, dass Leonardo Autist ist?
Valentina: Ich weiss nicht mehr, ob es das Mami oder der Papi war. Ich war auf jeden Fall noch ganz klein.
Dein drei Jahre jüngerer Bruder leidet an der sogenannten Autismus-Spektrum-Störung, kurz ASS. Wie würdest du einem Menschen, der keine Ahnung von Autismus hat, die Krankheit von Leonardo erklären?
Valentina: Ich sage, mein Bruder kann nicht sprechen, er isst manchmal wie ein Schwein und er kann sehr bockig sein.
Ein paar nette Dinge sagst du über deinen Bruder aber auch noch, oder?
Valentina: Ja schon, aber nicht immer.
Wann hast du angefangen, Texte über Leonardo zu schreiben?
Valentina: Das weiss ich nicht mehr.
Sonia: Vor zwei Jahren war das – Valentina, erzähle Herrn Bötschi doch einmal, wie alles zustande gekommen ist?
Valentina: Ich habe die Geschichten auf Papier aufgeschrieben, sie zu einem Büchlein zusammengeklebt und meiner Oma zum Geburtstag geschenkt.
Hat ihr das Büchlein gefallen?
Valentina: Sogar sehr. Mami hatte dann die Idee, dass wir das Büchlein vervielfältigen könnten.
Wie ging es weiter?
Sonia: Wir suchten eine Lektorin, die Valentina beim Ausformulieren ihrer Geschichten geholfen hat. Danach habe ich die Geschichten mit dem Computer nochmals abgetippt.
Wer ist schuld daran, dass die Texte nun im Wörterseh Verlag als Buch erschienen sind?
Valentina: Mami.
Mein Lieblingssatz in deinem Büchlein lautet: ‹Ich möchte Leonardo nicht verändern, denn ich liebe ihn so, wie er ist.›
Valentina: Das Leben mit meinem Bruder kann anstrengend sein, aber es macht auch viel Spass. Leonardo ist einzigartig, und ich liebe ihn ganz fest. Aber ehrlich gesagt, ich habe die Geschichten im Büchlein schon länger nicht mehr gelesen, und darum kann ich nicht sagen, welche Sätze darin ich am liebsten mag.
Du nennst deinen Bruder Rockstar, dabei kann er gar nicht singen.
Valentina: Das stimmt. Aber Leonardo schlägt mit dem Kopf gegen die Wand, wenn er sich unverstanden fühlt – und das tönt dann so, als würde er Schlagzeug spielen.
Ist es nicht brutal, mitanzusehen, wenn dein Bruder seinen Kopf gegen die Wand schlägt?
Valentina: Früher ja, heute bin ich daran gewöhnt. In der Schule wollten sie ihm deswegen einen Helm anziehen. Aber Mami und Papi möchten das nicht.
Sonia: Wie es Valentina vorhin gesagt hat: Leonardo schlägt mit dem Kopf gegen die Wand, wenn er sich unverstanden fühlt oder wenn er etwas haben möchte, aber wir es ihm nicht sofort geben. Aber natürlich lassen wir es nicht zu, dass er seinen Kopf gegen die Wand schlägt. Es ist ständig jemand in seinem Umfeld. Es gibt Wochen, in denen er ruhiger ist und er nie versucht, den Kopf gegen die Wand zu schlagen. Die aktuelle Corona-Krise findet Leonardo überhaupt nicht lustig. Er ist viel unruhiger als sonst. Sein Tagesablauf hat sich komplett verändert und er kann fast nie nach draussen gehen.
Leonardo kann noch nicht sprechen – Valentina, wie verständigt ihr euch beide?
Valentina: Wenn mein Bruder etwas will, nimmt er meine Hand und zeigt darauf.
Verstehst du immer, was er sagen will?
Valentina: Ja.
In deinem Buch schreibst du, dass Leonardo eine Vorliebe für die Vengaboys respektive deren Comic-Musikvideos ‹We’re going to Ibiza› habe.
Valentina: Dieses Video liebt er über alles. Ich fand es lange auch sehr cool, aber jetzt finde ich es nur noch blöd. Das Lied ist ein Ohrwurm – kaum habe ich es gehört, bring ich es nicht mehr aus meinem Kopf. Das mag ich nicht.
Was macht Leonardo, wenn er das Video der Vengaboys sieht?
Valentina: Er fängt an zu tanzen, hin und wieder geht er auch ganz nah an den Bildschirm ran.
Sonia: Ich glaube, das tut er deshalb, weil er ein bisschen in die Flugzeugpilotin verliebt ist, die im Video zu sehen ist (lacht).
Valentina: Nein, sie interessieren ihn nicht. Als ich Leonardo einmal aus einem anderen Buch etwas vorlesen wollte, lief er einfach weg. Ich gebe zu, da war ich etwas beleidigt.
Gibt es Dinge, die ihr beide gern zusammen macht?
Valentina: Schwimmen und in der Hängematte schaukeln.
Schreibst du nach wie vor Texte über deinen Bruder?
Valentina: Zurzeit nicht.
Frank Baumann hat zu deinem Büchlein ‹Der Delfin in der Hängematte› die Illustrationen beigesteuert. Wie gefallen dir seine Zeichnungen?
Valentina: Ich finde sie cool, aber ich habe ein bisschen Angst.
Vor was genau hast du Angst?
Valentina: Frank Baumann hat früher viele verschiedene TV-Sendungen gemacht. Ich weiss nicht, über was genau. Ich weiss nur, diese Sendungen fanden nicht alle Schweizerinnen und Schweizer gut, und deshalb habe ich Angst, dass sich mein Büchlein deswegen vielleicht nicht so gut verkaufen wird.
Gibt es etwas, was du im Zusammenhang mit deinem Bruder oder seiner Krankheit unbedingt noch erwähnen möchtest?
Valentina: Die Menschen sollen aufhören, unsere Familie komisch anzustarren, wenn wir zusammen auf der Strasse unterwegs sind oder wir zusammen einkaufen gehen. Das nervt total. Es fühlt sich an, als wären wir berühmt.
Möchtest du nicht berühmt sein?
Valentina: Doch, aber nicht auf diese Art.
Sondern?
Valentina: Ich würde gern Schauspielerin oder Regisseurin werden.
Sendung ist älter als 7 Tage und nicht mehr verfügbar.
Mona mittendrin
Mi 03.02. 21:00 - 21:35 ∙ SRF 1 ∙ CH 2021 ∙ 35 Min
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