Kolumne Willkommen im Homeoffice, der nicht mehr artgerechten Haltung 

Von Jürg Hösli

17.5.2021

Die Corona-Einschränkungen hinterlassen Spuren – und haben einen Effekt auf das Essverhalten.
Die Corona-Einschränkungen hinterlassen Spuren – und haben einen Effekt auf das Essverhalten.
Bild: Getty Images

Nach über einem Jahr Homeoffice sind bei vielen die Ess- und Bewegungsgewohnheiten aus dem Lot. Warum Homeoffice keine artgerechte Haltung ist. Und was hilft, wieder in Balance zu kommen.

Von Jürg Hösli

Jens ist Banker, Single und seit über einem Jahr in Homeoffice. Er hat sein soziales Umfeld in diesem Jahr verloren, konnte nicht mehr regelmässig zum Sport und fühlt sich gesundheitlich angeschlagen. Er hat fünf Kilo zugenommen, öfters Rückenschmerzen und sein Leben geht irgendwie an ihm vorbei. Dies ist leider kein Einzelfall, sondern nur ein kleiner Ausschnitt einer neuen Arbeitsrealität.

Corona brachte für einige Menschen die Chance, ihren Alltag zu hinterfragen und vielleicht auch neu zu ordnen. Einem anderen Teil hat der Bruch mit früheren Strukturen jedoch sehr viel Nachteile beschert. Und wenn heute darüber diskutiert wird, dass Homeoffice immer mehr Schule machen soll, dann muss auch darüber berichtet werden, dass das Arbeiten zu Hause für viele Menschen deutliche gesundheitliche Einschränkungen mit sich bringt. Ich möchte dies am Beispiel von Jens machen.

Jens ist ein junger Mann, der Arbeit und Karriere zielstrebig und strukturiert angegangen hat. Er arbeitet im schwierigen Umfeld in der Bank. Seine Arbeitskolleg*innen bildeten ein wichtiger Teil seiner sozialen Kontakte, vor der Corona-Krise ist er ab und zu auch mit ihnen essen gegangen oder zum Sport. Ein Jahr nach dem Homeoffice-Befehl ist nichts mehr davon geblieben.

Kaum mehr Energie, die Joggingschuhe anzuziehen

Er arbeitet nun von zu Hause aus, das kleine Frühstück vor dem Arbeiten im kleinen Kaffee um die Ecke gibt es nicht mehr, bis Mittag wird kaum noch gegessen. Die vielen kleinen klärenden Standortgespräche fehlen, doch trotzdem ist von ihm maximale Leistung gefordert. Darum fällt für Jens auch ab und zu das Mittagessen aus.

Über Jürg Hösli 
Jürg Hösli
zVg

Jürg Hösli ist Ernährungswissenschaftler und greift gerne kontroverse Themen aus Sport, Psychologie und Ernährung auf. Er ist Begründer der Ernährungsdiagnostik und der Schule für Ernährungsdiagnostik erpse in Winterthur, Zürich und Solothurn.

Isst er trotzdem zu Mittag, dann eher ein Fertiggericht aus der Mikrowelle anstatt leckere und gesunde Gemüsebowls im Vegi-Restaurant oder beim Italiener ersetzt. Am Abend heisst es, weit über die normale Arbeitszeit erreichbar zu sein. Von zu Hause arbeiten heisst, nie von der Arbeit Abstand nehmen zu können. Und der Druck in der Bank-Branche ist gross.

Früher machte Jens dreimal pro Woche Sport, und zwar jeweils direkt auf dem Nachhauseweg vom Büro. Heute ist Jens zu Hause, hat aber kaum mehr die Energie, um nach der Arbeit die Joggingschuhe anzuziehen. Am Abend gibt’s dann Essen vom Lieferservice und etwas Alkohol, um vom stressigen Tag runterzukommen. Jens überisst sich am Abend regelmässig, denn ihm fehlt jegliche Essstruktur über den Tag. Umso mehr wird am Abend kompensiert. Natürlich ist dies nicht gesund. Dies merkt auch Jens. Doch ihm fehlt die Energie all dies zu ändern.

... der hat schlicht verloren

Es überrascht nicht, hat Jens nach über einem Jahr im Homeoffice zugenommen. Auch sein Arzt unzufrieden: Cholesterinwerte und Blutdruck sind deutlich gestiegen, der Schlaf leidet unter inneren Ängsten und an der fehlenden Tagesstruktur. Dafür hat er einige Pillen bekommen. Natürlich möchte Jens das alles nicht – aber eben, ihm fehlt die Energie, all das zu ändern, und zugleich wird seine Arbeit immer fordernder.

Willkommen im Homeoffice. Willkommen in der nicht mehr artgerechten Haltung für viele Mitarbeiter. Früher förderten die Unternehmen das betriebliche Gesundheitsmanagement, doch im Homeoffice lässt sich das schlicht nicht mehr richtig umgesetzen.

Und wer das Pech hat, kein kontrollierter oder strukturierter Mensch zu sein und über kein soziales Umfeld ausserhalb der Arbeit zu verfügen, der hat schlicht verloren. Und wenn unter dem Decknamen «Naturschutz» der Ruf nach Homeoffice immer lauter wird, dann sollte man sich auch über diesen Umstand Gedanken machen.

Wie kann ich meine Tagesstruktur optimieren?

  • Nimm Dir für dein Frühstück Zeit, dann hast Du am Abend deutlich weniger Hunger und schläfst besser.
  • Stell Dir eine grosse Wasserflasche auf den Schreibtisch; die Hälfte davon solltest Du bis zum Mittag, die andere Hälfte bis zum Abend getrunken haben. Wer am Abend noch viel trinkt, muss in der Nacht aufstehen.
  • Platziere eine Schale mit zwei bis drei Früchte und etwas Nüssen auf deinem Schreibtisch. Du wirst den Tag über automatisch zugreifen und am Abend noch deutlich mehr Energie haben. Dann reicht es auch für den Sport.
  • Gehe über Mittag aus dem Haus, nimm etwas Abstand von deiner Arbeit. Am besten triffst Du dich auf einer Restaurantterrasse mit Freunden zum Mittagessen. Soziale Kontakte sind wichtig!
  • Nimm Dir nicht zu viel Sport vor. Auch dreimal 15 bis 20 Minuten Joggen bringt schon deutlich mehr Energie in deinen Alltag. Zudem bist Du weniger erschöpft nach dem Sport, das bringt oft eine längere Motivation und besseren Schlaf mit sich.

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In der Rubrik «Kolumne» schreiben Redaktorinnen und Redaktoren, freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von «blue News» regelmässig über Themen, die sie bewegen. Leserinnen und Leser, die Inputs haben oder Themenvorschläge einreichen möchten, schreiben bitte eine E-Mail an: redaktion.news@blue.ch