Kapitol gestürmt Die längsten vier Stunden der jüngsten US-Geschichte

AP

7.1.2021 - 09:33

Angestachelt von einem amtierenden US-Präsidenten stürmt ein gewaltbereiter Mob die Bastion der amerikanischen Demokratie – eine beispiellose Eskalation der politischen Grabenkämpfe im Land. Trumps Anhänger wüten im Kapitol – und schiessen Erinnerungsfotos.

Abgeordnete kauerten unter Tischen, Sicherheitsleute standen mit gezogenen Waffen an den mit Möbeln verbarrikadierten Türen, während in den Gängen des Kapitols der Mob wütete. «Wo sind sie?», brüllte ein Mann, auf der Suche nach jenen Abgeordneten, die am Mittwoch Joe Bidens Wahl zum US-Präsidenten formal bestätigen sollten. «Trump hat die Wahl gewonnen», rief ein anderer, der es bis aufs Podium des Senats geschafft hatte. Die viel beschworene Spaltung des Landes hatte sich an diesem 6. Januar 2021 mit verstörender Wucht Bahn gebrochen.

Es war einer der düstersten Tage der jüngeren US-Geschichte, ein Tiefpunkt für die gefeierte amerikanische Demokratie. Ex-Präsident Barack Obama sprach von einem Moment der Schande für die Nation. Er und sein Vorgänger George W. Bush sowie zahllose andere auf aller Welt verurteilten, wie der abgewählte Präsident Donald Trump gemeinsam mit zahlreichen Republikanern mit frei erfundenen Behauptungen von Wahlbetrug die Menge angestachelt hatte. Biden sprach von einem «beispiellosen Angriff» auf die Demokratie.

Trump rief zum Marsch aufs Kapitol auf

In einer Rede am Mittwochmorgen nahe dem Weissen Haus hatte Trump seine Anhänger aufgerufen, zum Kapitol zu marschieren und versprach, sich ihnen anzuschliessen – wenn auch offenbar nur bildlich. Stattdessen schickte er sie mit den Worten los: «Wenn ihr nicht wie der Teufel kämpft, werdet ihr kein Land mehr haben.» Ausserdem forderte er sie auf, «die schwachen Leute im Kongress loszuwerden».

Protestierende sind ins US-Kapitol und sogar bis in die Säle des US-Senats vorgedrungen – anschliessend schossen einige Erinnerungsfotos am Pult des Senatsvorsitzenden.
Protestierende sind ins US-Kapitol und sogar bis in die Säle des US-Senats vorgedrungen – anschliessend schossen einige Erinnerungsfotos am Pult des Senatsvorsitzenden.
Bild: Getty Images

Die Folge: Hunderte Anhänger des Präsidenten bahnten sich am Mittwoch an Polizeibarrikaden vorbei und durch Pfefferspraywolken in kürzester Zeit den Weg über die Stufen bis zu den grossen Eisentoren am Kongressgebäude, wo sie eine Trump-Flagge hissten. Die Menge streifte durch die Gänge, schlug gegen Türen, drang in den Senatssaal ein, in das Büro der Vorsitzenden des Repräsentantenhauses, wo einer die Füsse auf ihren Tisch legte und für ein Foto posierte. Ein anderer setzte sich auf jenen Platz, von dem aus Vizepräsident Mike Pence kurz zuvor die Sitzung zur Biden-Wahl geleitet hatte. Eilig waren zuvor die Behälter mit den Stimmen der Wahlleute in Sicherheit gebracht worden.

Vielerorts lagen Scherben, in der Rotunde roch es nach Tränengas, nachdem die schwer bewaffnete Polizei eingerückt war. Einer Frau wurde in die Brust geschossen und starb später. Wer geschossen hatte, war zunächst unklar.

«Ihr seid daran schuld!»

Einige der Abgeordneten beteten, als der Mob von aussen an die Türen schlug und verlangte, eingelassen zu werden. «Ihr seid daran schuld!», brüllte der republikanische Abgeordnete Dean Phillips seinen Parteikollegen zu, die Trumps Behauptungen vom Wahlbetrug mitgetragen hatten. Gerüchte machten die Runde, dass die Trump-Anhänger bewaffnet seien, aber es war zunächst nicht klar, ob ausser dem Schuss auf die Frau noch auf jemand anderen gefeuert wurde.

Abgeordnete mussten wegen des Tränengases Gasmasken aufsetzen. Einige wurden gleich in Sicherheit gebracht, andere sassen auf der Galerie fest, wo sie wegen der Abstandsregeln die Sitzung verfolgt hatten. Mit gezogenen Waffen lugten Mitglieder des Sicherheitsdienstes des Kapitols aus einer Tür und brachten zahlreiche Abgeordnete und andere über verschiedene Gänge und Tunnel in ein Café in einem der Bürogebäude des Repräsentantenhauses.

Irgendwann hallte dann die Durchsage «Das Kapitol ist gesichert» durch einen Lautsprecher. Rund vier schier endlose Stunden waren zu diesem Zeitpunkt seit dem Sturm auf das Kapitol vergangen. Schwer bewaffnete Polizisten hatten zuvor Zimmer um Zimmer durchsucht und den Mob mit Tränengas und Blendgranaten auf den Platz und den Rasen vor dem Gebäude gedrängt. Auf einigen Aufnahmen war aber auch zu sehen, dass Leute einfach durch die Tore nach draussen gehen durften. Zunächst wurde nur eine Handvoll Festnahmen gemeldet.

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