100 Tage KriegWie ein Arzt im Gazastreifen um Leben kämpft
dpa/pfi
13.1.2024 - 20:28
Manchmal drängen sich Bilder des Schreckens in die Erinnerung des Arztes Suhaib Alhamss, der ein Krankenhaus in der Stadt Rafah leitet. Und täglich kommt neues Grauen hinzu.
DPA, dpa/pfi
13.01.2024, 20:28
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Die Lage in den Spitälern im Gazastreifern ist dramatisch.
Der Arit Suhaib Alhamss leitet ein Krankenhaus in der Stadt Rafah und kämpft täglich unter schrecklichen Bedingungen um das Überleben unzähliger Opfer.
«Jeden Tag sterben Menschen vor meinen Augen, weil ich keine Medikamente, keine Brandsalbe und keine Hilfsmittel habe, um ihnen zu helfen», klagt der verzweifelte Arzt.
Für ein paar Stunden am Tag oder in der Nacht versucht Dr. Suhaib Alhamss auf einer dünnen Matratze in einem Operationssaal zu schlafen. Er mäandert irgendwo zwischen Schlaf und Wach, ist zu müde, seine Augen zu öffnen und zu angespannt, um loszulassen. Immer wieder rüttelt der donnernde Beschuss an den Fenstern des von ihm geleiteten Krankenhauses im südlichen Gazastreifen.
Doch die schlimmsten Geräusche kommen aus dem Inneren des Kuwaitischen Krankenhauses. Es ist das Weinen kleiner Kinder ohne Eltern, mit grossflächigen Verletzungen. Es sind die von Panik erfüllten Schreie von Patienten, die beim Aufwachen feststellen, dass sie Gliedmassen verloren haben.
«Dies ist eine Katastrophe, die grösser ist als wir alle»
100 Tage ist es am Sonntag her, dass der Gaza-Krieg zwischen der militant-islamistischen Hamas und Israel begonnen hat. Alhamss und die übrigen Bewohner des Küstengebiets sind seither einem Ausmass von Gewalt und Schrecken ausgesetzt, das alles übertrifft, das sie davor erlebt haben. Die Heimatstadt des 35-Jährigen ist nicht mehr wiederzuerkennen. «Dies ist eine Katastrophe, die grösser ist als wir alle», sagt Alhamss am Telefon zwischen zwei Operationen.
Sein Krankenhaus, das von der kuwaitischen Regierung gespendet wurde und finanziert wird, ist eines von zwei in der Stadt Rafah, unweit der Grenze mit Ägypten. Vor dem Krieg gab es auf der Intensivstation nur vier Betten. Inzwischen treffen etwa 1500 verletzte Patienten täglich ein, mindestens 50 Menschen sind beim Eintreffen in der Regel schon tot. Es sind von Schrapnellsplittern zerfetzte Leiber, die hier ankommen, Erwachsene und Kinder mit freigelegten Knochen.
Hamas nimmt Zivilisten als Schutzschild
Von mehr als 23’800 Toten berichtet das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium in dem Küstengebiet am Samstag. Es unterscheidet in seiner Zählung nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten, hat aber erklärt, dass etwa zwei Drittel der Getöteten Frauen und Kinder seien.
Israel macht die Hamas, die den Gaza-Krieg mit ihrem Grossangriff auf Israel am 7. Oktober auslöste, für die hohe Zahl ziviler Opfer verantwortlich. Deren Kämpfer nutzten zivile Gebäude und verübten Angriffe von dicht besiedelten Wohngebieten aus, hat das israelische Militär wiederholt erklärt.
«Die Situation ist vollständig ausser Kontrolle»
Um Platz für die vielen Verletzten zu schaffen, hat Alhamss die Intensivstation um einige Dutzend Extrabetten aufgestockt. Die Apotheke hat er geräumt, sie war ohnehin fast leer, weil das Krankenhaus wegen der Belagerung des Gazastreifens weder über Infusionsleitungen noch über die meisten Medikamente verfügt. Trotzdem bleibt kaum Raum für die vielen Patienten. «Die Situation ist vollständig ausser Kontrolle», sagt der Arzt.
Alhamss ist ausgebildeter Urologe und Vater von drei Kindern. Die Veränderungen in seiner Stadt und im Krankenhaus durch den Krieg hat er mit Entsetzen beobachtet.
Nur noch Ruinen
Mit ihren niedrigen Betongebäuden und den von Müll übersäten Gassen, in denen es von Arbeitslosen wimmelt, war Rafah seit langem ein trostloser Ort. Während der israelisch-ägyptischen Blockade war sie als Zentrum des Schmuggels berüchtigt. Rafah beheimatet den einzigen Grenzübergang des Gazastreifens, der nicht nach Israel führt.
Jetzt ist es der Brennpunkt einer der schlimmsten humanitären Krisen der Welt. Wohnhäuser sind zu schwelenden Ruinen zerbombt worden. Die israelischen Evakuierungsaufforderungen und die Ausweitung der israelischen Offensive haben die Bevölkerung in Rafah von 280’000 auf 1,4 Millionen anschwellen lassen. Hunderttausende von vertriebenen Palästinenserinnen und Palästinensern sind in dürftigen Zelten zusammengepfercht.
Die meisten Menschen verwenden täglich Stunden darauf, nach Nahrung zu suchen. Sie warten in Schlangen, die sich kaum vorwärtsbewegen, vor Verteilzentren auf Lebensmittel. Manche laufen kilometerweit, um Bohnen- und Reiskonserven zu transportieren.
Hilfstransporte kommen nicht an
Die Gesichter, die Alhamss auf den Strassen und bei der Arbeit sieht, haben sich verändert, während die israelische Armee das Ziel vorantreibt, die Hamas zu zerschlagen. Angst und Anspannung zeichneten sich darauf ab, sagt er. Die Gesichter der Verletzten, die ins Krankenhaus gebracht werden, seien blutverschmiert. Wächserne, graue Haut und dunkle Augenringe kennzeichneten die Sterbenden. «Es ist nicht die Stadt, die ich kenne», sagt Alhamss.
Über den Grenzübergang Rafah sind Hilfstransporte eingetroffen. Doch sie reichen nicht annähernd aus, um die Not in dem belagerten Küstenstreifen wirklich zu lindern, wie Vertreter von Hilfsorganisationen sagen. In Ermangelung wichtiger Ausstattung wird das medizinische Personal erfinderisch. Alhamss verbindet Wunden mit Leichentüchern. «Jeden Tag sterben Menschen vor meinen Augen, weil ich keine Medikamente, keine Brandsalbe und keine Hilfsmittel habe, um ihnen zu helfen», sagt er.
Ganze Familien ausgelöscht
Er ist zu überwältigt, um über all das nachzudenken, was er gesehen hat. Doch einige Bilder drängen sich unaufgefordert ins Bewusstsein. Da ist der ausdruckslose Blick eines kleinen Jungen, der einen Angriff überlebte, bei dem seine gesamte Familie ausgelöscht wurde. Da ist das Baby, das aus dem Bauch seiner toten Mutter herausoperiert wurde.
«Ich denke: Wie werden sie weitermachen? Sie haben niemanden mehr auf dieser Welt», sagt Alhamss. Seine Gedanken wandern weiter zu den eigenen Kindern, die sich in der Wohnung ihrer Grossmutter in Rafah verstecken, zwölf, acht und sieben Jahre alt. Er sieht sie einmal in der Woche, am Donnerstag, wenn sie zum Krankenhaus kommen, um ihn zu umarmen.
«Es ist Gottes Wille»
«Ich habe schreckliche Angst um sie», sagt Alhamss. Er kennt Ärzte und Krankenpfleger, die zu Hause oder auf dem Weg zur Arbeit von Artillerie, Raketen oder Drohnen getötet wurden. Er hat Dutzende seiner Medizinstudenten von der Islamischen Universität von Gaza verloren, an der er lehrt, ehrgeizige Männer und Frauen, die noch so viel Leben vor sich gehabt hätten. Aber Trauer ist ein Luxus, den er sich nicht leisten kann. Auf die Frage, wie er sich fühlt, antwortet er: «Es ist Gottes Wille.»
«Wir alle werden am Ende sterben, warum sich davor fürchten?», fragt er. «Wir haben keine andere Wahl, als zu versuchen, in Würde zu leben und denen zu helfen, denen wir helfen können.»