Berg-KarabachFeuerpause zwischen Armenien und Aserbaidschan brüchig
SDA/AFP/tgab
10.10.2020 - 02:59
Trotz einer beschlossenen Waffenruhe seit Samstagmittag zwischen Armenien und Aserbaidschan in der Krisenregion Berg-Karabach werfen sich beide Konfliktparteien gegenseitig Angriffe vor.
Nach fast zwei Wochen schwerer Gefechte in Berg-Karabach ist in der umkämpften Kaukasusregion am Samstagmittag eine Waffenruhe in Kraft getreten. Die Konfliktparteien Armenien und Aserbaidschan warfen sich jedoch schon unmittelbar danach gegenseitig vor, die Feuerpause verletzt zu haben.
In der Nacht zum Samstag hatten sich beide Seiten unter Vermittlung von Russlands Außenminister Sergej Lawrow neben der Waffenruhe auf den Beginn «ernsthafter Verhandlungen» über die Zukunft der seit Jahrzehnten umstrittenen Region geeinigt. Die Feuerpause wurde in der Nacht auf Samstag nach stundenlangen Verhandlungen in Moskau durch Russland vermittelt.
Gegenseitige Beschuldigungen
Nur Minuten nach dem Inkrafttreten der Waffenruhe um 12.00 Uhr Ortszeit meldeten beide Seiten erneuten Beschuss. «Unter Missachtung des zuvor erklärten humanitären Waffenstillstands» hätten die aserbaidschanischen Streitkräfte um 12.05 Uhr einen Angriff gestartet, erklärte das armenische Verteidigungsministerium. Bereits kurz vor dem Beginn der Feuerpause habe Aserbaidschan «zivile Gebiete mit Raketen getroffen», schrieb ein Vertreter der selbsternannten Regierung in Berg-Karabach im Kurzmitteilungsdienst Twitter. Explosionen erschütterten die Stadt am Morgen, berichtete ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP.
Baku wiederum bezichtigte Eriwan, «in eklatanter Weise gegen das Waffenstillstandsregime» zu verstoßen. Bei Angriffen seien zwei Wohngebiete getroffen worden, erklärte das aserbaidschanische Verteidigungsministerium.
Trotz der gegenseitigen Beschuldigungen über den Bruch der Waffenrufe wurde es in der umkämpften Region am Mittag nach Berichten des AFP-Reporters ruhiger. Anwohner wagten sich wieder vor ihre Haustüren, nachdem sie sich tagelang vor den Beschüssen versteckt hatten.
Weitere Friedensverhandlungen in Gefahr?
Die Feuerpause soll dazu genutzt werden, um Kriegsgefangene und andere inhaftierte Personen auszutauschen und die Körper toter Soldaten in ihre Heimat zu übergeben. Grundlegende Friedensverhandlungen sollte es unter Führung der sogenannten Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) geben. Die Gruppe wird von Russland, den USA und Frankreich angeführt, die in dem Konflikt vermitteln.
Die Verhandlungen zur Feuerpause in Moskau zwischen den Aussenministern Jeyhun Bayramov und Sohrab Mnazakanjan der verfeindeten Nachbarn dauerten mehr als zehn Stunden. Kremlchef Wladimir Putin hatte beide Länder zuvor eindringlich zu einer Waffenruhe aufgerufen. Russland hat zu beiden Ex-Sowjetrepubliken diplomatische und wirtschaftliche Verbindungen. Jene mit Armenien sind jedoch intensiver. Dort hat Russland auch eine Militärbasis.
Hunderte Tote, tausende Flüchtende
Seit knapp zwei Wochen gibt es in Berg-Karabach neue Kämpfe mit Hunderten Toten. Auch am Freitag dauerten die Gefechte an. Auch die Hauptstadt Stepanakert wurde wieder mit Raketen beschossen, Aserbaidschan will neun Dörfer eingenommen haben. Insgesamt wurden seit Beginn der Gefechte rund 400 armenische Soldaten in Berg-Karabach getötet. Aserbaidschan hat bislang keine Angaben zu eigenen Verlusten gemacht, spricht aber von rund 30 toten Zivilisten. Es gibt tausende Flüchtlinge in der Unruheregion.
Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev nannte das Treffen in Moskau die «letzte Chance» auf eine friedliche Lösung. Der Konflikt solle jedoch zuerst militärisch beendet werden. Erst später könne man über eine dauerhafte politische Lösung sprechen. Armenien müsse Berg-Karabach aufgeben.
Ob die Waffenruhe eingehalten wurde, ist unklar
Kurz vor Beginn der neuen Waffenruhe war die Lage in der Region angespannt. Die Feuerpause wurde nach ersten Angaben aus Armenien bereits kurz nach Inkrafttreten gleich wieder gebrochen. Dafür gab es jedoch keine unabhängige Bestätigung.
Am Vormittag habe es zahlreiche Luftangriffe gegeben, hiess es aus Eriwan. Auch die Stadt Kapan in Armenien an der Grenze zu Berg-Karabach soll angegriffen worden sein. Es soll Verletzte und Toten geben. Das wies Baku jedoch als «Lüge» und «Provokation» zurück. Aserbaidschan habe versucht, sich vor der Waffenruhe noch einen Vorteil zu verschaffen, erklärte die armenische Armeesprecherin auf Facebook. Baku wirft hingegen Eriwan vor, Siedlungen mit Raketen beschossen zu haben.
Die Ursprünge des Konflikts
Die überwiegend von Armeniern besiedelte Region hatte sich Anfang der 1990er Jahre in einem Krieg mit rund 30'000 Toten und Hunderttausenden Flüchtlingen von Aserbaidschan losgesagt. Die Führung in Baku wirft dem Nachbarland vor, völkerrechtswidrig aserbaidschanisches Gebiet besetzt zu halten. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Kämpfe und Scharmützel zwischen den beiden verfeindeten Nachbarn. Diesmal war es jedoch die heftigste Eskalation in dem Jahrzehnte alten Konflikt seit Einigung auf einen Waffenstillstand 1994.
Aserbaidschan bekommt in dem Konflikt Rückendeckung von der Türkei. Auch ausländische Söldner und Kämpfer dschihadistischer Gruppen aus den Kriegsgebieten in Syrien und Libyen sollen an den Gefechten beteiligt sein. Eindeutige Beweise gibt es bislang nicht.