So politisch ist Tokio 2020 Es riecht nach Revolution im Olymp

Von Andreas Fischer

7.8.2021

Während des Wettkampfs erregte Raven Saunders mit ihrem schrillen Outfit Aufsehen: Nach dem Gewinn der Silbermedaille im Kugelstossen nutzte sie die Siegerehrung für eine politische Botschaft.
Während des Wettkampfs erregte Raven Saunders mit ihrem schrillen Outfit Aufsehen: Nach dem Gewinn der Silbermedaille im Kugelstossen nutzte sie die Siegerehrung für eine politische Botschaft.
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Tokio 2021 zeigt: Sport und Politik sind längst nicht mehr so unvereinbar, wie es sich das IOC wünscht. Das liegt an mündigen Sportler*innen, aber auch an uneinsichtigen Diktatoren.

Von Andreas Fischer

7.8.2021

Natürlich stand der Sport im Mittelpunkt dieser – mit der erfolgreichsten Schweizer Sommer-Delegation seit 69 Jahren – Olympischen Spiele in Tokio. Aber, sagte die US-Fussballerin Megan Rapinoe schon zu Beginn der Wettkämpfe: «Viele, die hier sind, machen sich nicht nur über ihren Sport Gedanken, sondern auch über viele andere Dinge.» 

Kurz vor Beginn der Spiele hat das Internationale Olympische Komitee (IOC) seine strikte Haltung zu politischen Meinungsäusserungen während olympischer Wettkämpfe gelockert. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Mündige Athletinnen und Athleten positionieren sich: So bleiben die Olympischen Spiele in Tokio nicht nur wegen sportlicher Exploits in Erinnerung, sondern auch wegen gekreuzter Unterarme und Ganzkörperanzügen, wegen politischer Statements und grosser Gesten.

«Sport an sich kann nicht wertfrei sein»

Unpolitisch können sportliche Grossereignisse auch gar nicht sein, sagt Simon Engel in einem Gespräch mit «blue News». Der Sporthistoriker von «Swiss Sports History», einem Portal, das sich mit der Sportgeschichte in der Schweiz beschäftigt und an der Universität Luzern angeschlossen ist, erklärt: «Aus der historischen Perspektive kann man schon sagen, dass alle bisherigen Olympischen Spiele in der einen oder anderen Art politisch waren.» Das sei schon in der Antike der Fall gewesen: «Diese Veranstaltungen zu Ehren der griechischen Götter waren politisch, weil Nichtgriechen von der Teilnahme ausgeschlossen waren und nach aussen ein starkes Griechentum präsentiert werden sollte.»

Der Sport an sich, so Engel, könne überhaupt nicht wertfrei sein, allein schon deswegen, weil er gesellschaftliche Vorstellungen über den Körper, über Geschlecht oder über die Herkunft widerspiegele. Das liess sich auch in Tokio beobachten. Auch wenn die Spiele in der japanischen Hauptstadt nicht die politischsten aller Zeiten waren, brachten sie doch einige denkwürdige Momente abseits der Arenen hervor.

Polizeischutz statt 200 Meter-Sprint

Zunächst einmal ist da natürlich der Fall der belorussischen Sprinterin Kristina Timanowskaja. Die Olympia-Teilnehmerin sollte mutmasslich aus Tokio in ihre Heimat entführt werden, weil sie Kritik an Funktionären ihres Landes geäussert hatte. Der Fall wurde zum internationalen Politkrimi: Kristina Timanowskaja bekam Asyl in Polen und reiste über Umwege nach Warschau aus – was einer Flucht vor dem Regime von Diktator Alexander Lukaschenko glich.



Das IOC stellte sich recht schnell schützend vor die Athletin und leitete eine formelle Untersuchung ein. Zwei belarussischen Leichtathletik-Trainern wurde die Olympia-Akkreditierung entzogen, IOC-Präsident Thomas Bach schliesst weitere Strafmassnahmen gegen Belarus nicht aus.

Die Politik macht vor Olympia nicht halt: Die belarussische Sprinterin Kristina Timanowskaja befürchtete, vom Regime in Minsk entführt zu werden, und floh über Wien nach Warschau.
Die Politik macht vor Olympia nicht halt: Die belarussische Sprinterin Kristina Timanowskaja befürchtete, vom Regime in Minsk entführt zu werden, und floh über Wien nach Warschau.
Keystone

Annäherung an Israel

Vor knapp zwei Jahren war der iranische Judoka Saeid Mollaei aus Furcht vor Repressionen nach Deutschland geflohen. Inzwischen startet er für die Mongolei und holte bei den Olympischen Spielen von Tokio trotz aller Widrigkeiten Silber. «Ich hätte dies schon früher bekommen können. Leider haben einige Leute dies nicht zugelassen. Es gab viele schlimme Dinge, Dinge, die ich von mir entfernt halten musste», sagte der 29-Jährige nach dem Wettkampf.

Bei der Weltmeisterschaft 2019 in Tokio hatte der Iraner die Anweisung erhalten, im Halbfinal nicht anzutreten. Er sollte so einem möglichen Final gegen den Israeli Sagi Muki aus dem Weg gehen. Mollaei widersetzte sich – und widmete die Olympia-Medaille ausgerechnet dem Land, gegen das er vor zwei Jahren nicht antreten sollte: «Ich danke Israel für all die gute Energie. Diese Medaille ist auch euch gewidmet, und ich hoffe, die Israelis sind glücklich darüber.» Seine Botschaft an die Welt sei: «Als freier Mensch kannst du erreichen, was du willst.»

Seit Jahrzehnten treten iranische Sportler nicht gegen israelische Kontrahenten an, weil der Iran Israel als Staat nicht anerkennt: Saeid Mollaei wollte das nicht mehr mitmachen und trat für die Mongolei an.
Seit Jahrzehnten treten iranische Sportler nicht gegen israelische Kontrahenten an, weil der Iran Israel als Staat nicht anerkennt: Saeid Mollaei wollte das nicht mehr mitmachen und trat für die Mongolei an.
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Boykott gegen Israel

Der algerische Judoka Fethi Nourine hat bei den Olympischen Spielen in Tokio einen möglichen Kampf gegen einen Israeli hingegen verweigert und auf eine Teilnahme verzichtet. Der Internationale Judo-Verband nahm daraufhin Ermittlungen gegen den 30 Jahre alten Sportler und dessen Trainer auf. Beide wurden suspendiert.

Nourine hätte in Tokio in der Gewichtsklasse bis 73 Kilogramm auf den Israeli Tohar Butbul treffen können. Daraufhin äusserten sowohl der Athlet als auch der Trainer in algerischen Medien die Absicht, bei den Spielen nicht anzutreten, und begründeten dies damit, nicht gegen einen Israeli kämpfen zu wollen. «Wir hatten kein Glück bei der Auslosung», sagte Trainer Amar Ben Yekhlef. Eine Normalisierung der Beziehung zu Israel lehne das Land ab.

Gekreuzte Arme

US-Kugelstosserin Raven Saunders hat mit einer Geste während der Siegerehrung die Aufmerksamkeit des IOC auf sich gezogen. Die 25-jährige Amerikanerin, die in Tokio Silber gewann, hatte am Sonntag auf dem Podium ihre Arme zu einem X über ihrem Kopf erhoben. Saunders sagte, die Geste sei als Zeichen der Unterstützung für die Unterdrückten gedacht. Politische Aktionen während der Siegerehrung sind weiterhin untersagt. Das IOC leitete deswegen eine Untersuchung ein, die nach dem Tod von Saunders Mutter derzeit ausgesetzt ist. Das Olympische Komitee der USA sieht hingegen keinen Regelverstoss von Saunders.

Silbermedaillen-Gewinnerin Raven Saunders drückte mit ihrer X-Geste bei der Siegerehrung im Kugelstossen Solidarität mit unterdrückten Menschen aus.
Silbermedaillen-Gewinnerin Raven Saunders drückte mit ihrer X-Geste bei der Siegerehrung im Kugelstossen Solidarität mit unterdrückten Menschen aus.
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Der Wohlfühl-Faktor

Deutschlands Frauen-Riege stand bei den Olympischen Spielen in Tokio im Blickpunkt der Turnwelt. Der Grund war augenfällig: Elisabeth Seitz, Sarah Voss, Kim Bui und Pauline Schäfer präsentierten sich unter den 98 Starterinnen der Qualifikation als Einzige in Ganzkörperanzügen statt in den üblichen knappen, badeanzugähnlichen Outfits.



Damit hat das Quartett weltweit eine Debatte angestossen darüber, wie Sportlerinnen Blicken begegnen und sich damit wohler fühlen können. «Wir wollen uns toll fühlen, wir wollen allen zeigen, dass wir toll aussehen», sagte die 21-jährige Kölnerin Voss in Tokio. Allgemein wird die Aktion als Revolution im Frauen-Turnen und als Zeichen gegen die Sexualisierung der Sportart gewertet. So weit aber wollen Elisabeth Seitz und ihre Kolleginnen nicht gehen: «Es geht darum, sich wohl zu fühlen. Wir wollen zeigen, dass jede Frau, jeder selbst entscheiden soll, was er anzieht.»

Mehr Stoff wagen: Die deutschen Turnerinnen lösten bei den Olympischen Spielen mit ihren Ganzkörperanzügen eine gesellschaftliche Debatte aus.
Mehr Stoff wagen: Die deutschen Turnerinnen lösten bei den Olympischen Spielen mit ihren Ganzkörperanzügen eine gesellschaftliche Debatte aus.
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Erste Transgender-Athletin

Sportlich verläuft der Wettkampf für Laurel Hubbard enttäuschend. Nach drei ungültigen Versuchen wird die Gewichtheberin aus Neuseeland Letzte. Doch ihre Botschaft war wichtiger als eine Medaille: Sie war die erste Olympia-Athletin, die offen ihre Geschlechtsidentität angepasst hat. Als Transgender. Als Person, die sich dem Geschlecht, das ihr bei der Geburt zugeschrieben wurde, nicht zugehörig fühlt. «Sport ist etwas für alle Menschen, er ist inklusiv, er gewährt allen Zutritt», sagte Hubbard nach dem Wettkampf mit zitternder Stimme.

Zehn Minuten für die Ewigkeit: Zwar war der Auftritt von Laurel Hubbard schnell vorbei, doch die Olympia-Teilnahme der ersten Transgender-Athletin lieferte viel Gesprächsstoff. 
Zehn Minuten für die Ewigkeit: Zwar war der Auftritt von Laurel Hubbard schnell vorbei, doch die Olympia-Teilnahme der ersten Transgender-Athletin lieferte viel Gesprächsstoff. 
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Bei Grossanlässen entfalten kleine und grossen Gesten eine besondere Wirkung, erklärt Sporthistoriker Simon Engel. «Beim Sport und insbesondere bei Olympia wirken die drei grossen ‹M›. Sie stehen für Masse im Sinne von medialem Interesse und Zuschauerinteresse, Märkte, also wirtschaftliche Interessen und Macht im Sinne von gesellschaftlicher und politischer Macht und Einflussnahme. Die Masse ist dabei immer die Basis, weil sie genau das ist, was wirtschaftliche und politische Player brauchen, um sich präsentieren und verkaufen zu können.»

Sportler, aber auch Politiker wüssten, die grosse Bühne Olympia aufgrund des Medien- und Zuschauerinteresses für ihre Botschaften zu nutzen, sagt Engel. «Das passt natürlich vielen Sportverbänden nicht, weil sie sich als politisch neutral sehen und für alle offen sein wollen – was aber auch eine Art Lebenslüge ist.»

«Die Leidtragenden sind immer die Sportler*innen»

Das IOC könne gar nicht anders, als die Zeichen der Zeit zu erkennen. Nicht nur von den Sportlerinnen und Sportlern komme Druck, sondern auch von den Sponsoren. «Natürlich sollen die Olympischen Spiele immer noch primär als sportliche Veranstaltung wahrgenommen werden und nicht als politische», sagt Engel.

Doch insbesondere der Fall der belorussischen Sprinterin Timanowskaja zeige deutlich, «dass der Sport, dass Verbände eben doch politisch sind, auch wenn sie das Ideal des unpolitischen Sports vertreten, der für alle offen ist und frei von politischen Einflussnahmen. Ich verstehe diese Argumentation aber durchaus, denn die Leidtragenden solcher Einflussnahmen sind schliesslich oft die Sportlerinnen und Sportler selber. Und die möchte man schützen.»

Mit Material der DPA.