Delta-VarianteBoris Johnsons riskante Einbahnstrasse Richtung Freiheit
dpa/toko
4.7.2021 - 18:00
Wieder einmal ist Grossbritannien das Sorgenkind Europas: Die Delta-Variante lässt die Corona-Zahlen steigen. Und Boris Johnson? Kritiker sagen, der Premier wolle noch einmal kräftig Öl ins Feuer giessen.
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04.07.2021, 18:00
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«Vorsichtig, aber unwiderruflich» – so lautet das Motto des britischen Premiers für den Weg aus der Pandemie. Lange Zeit klang Boris Johnsons Slogan wie ein Erfolgsmodell. Über Monate hinweg nahm die Zahl der Corona-Fälle im Vereinigten Königreich rapide ab, trotzdem liess man sich viel Zeit zwischen den einzelnen Lockerungsschritten.
Die Menschen hatten eine Perspektive und zogen weitgehend mit. Wochenlang lag die Inzidenz bei um die 20 und die Briten dachten, sie hätten es nach einem langen, harten Winter endlich geschafft.
60'000 Fans im Stadion
Doch dann kam Delta. Die hochansteckende, wohl vielfach von Reiserückkehrern aus Indien ins Land eingeschleppte Variante liess die Fallzahlen innerhalb kürzester Zeit in die Höhe schnellen. Monatelang lag die britische Inzidenz weit unter der deutschen, nun liegen Welten dazwischen, in Grossbritannien ist sie wieder bei knapp 200 angekommen – und damit mit auf dem höchsten Niveau in ganz Europa.
Zeit, um wieder die Notbremse zu ziehen? Dieser recht nahe liegende Gedanke scheint im Londoner Regierungsviertel derzeit ferner zu liegen denn je. Stattdessen lässt man zu den Halbfinals und dem Finale der Fussball-EM 60'000 Fans ohne nennenswerte Abstände ins Wembley-Stadion und plant weitere Lockerungen – also noch mehr Öl für das lodernde Feuer, wie Kritiker sagen.
In der Bahn oder im Supermarkt Maske zu tragen, soll bald zur «persönlichen Entscheidung» werden, wie ein Minister am Sonntag erklärte. Ab dem 19. Juli – so der derzeitige Plan – können die Engländer wieder im voll besetzten Theater sitzen, riesige Feste feiern und sogar die Nacht im vollen Club durchtanzen. «Das ist ein furchtbarer Plan», twitterte dazu Christina Pagel vom University College London, die auch in einem Beratungsgremium der Regierung sitzt. «Es sieht so aus, als würden wir das einzige Land, das alles gegen die Wand der Impfstoffe wirft und hofft, dass diese standhält», so die Expertin in einem anderen Tweet.
Festzuhalten ist, dass die «Wand der Impfstoffe» im Vereinigten Königreich deutlich stabiler ist als in vielen anderen Ländern. Gut 63 Prozent der britischen Erwachsenen sind bereits vollständig geimpft, etwa 86 haben immerhin die erste Dosis hinter sich. Dennoch bleiben genug Menschen übrig, für die Delta eine Gefahr darstellt – zumal ein wirklich wirksamer Schutz vor der Variante erst nach der vollständigen Impfung bestehen soll.
Bis zum Herbst weitermachen
Zwar ist zu bedenken, dass die Zahl der Spitaleinlieferungen und Todesfälle bislang nicht im gleichen Masse mit den positiven Fällen ansteigt wie in vorherigen Corona-Wellen. Aber vergangene Woche sahen sich die Krankenhäuser in England dennoch wieder mit so vielen Corona-Fällen konfrontiert wie schon lange nicht mehr. Das Kalkül der Regierung ist trotzdem: Jüngere und Kinder landen seltener mit Covid-19 im Krankenhaus und sterben auch seltener daran. Dass sie zum Teil mit Langzeitfolgen genauso zu kämpfen haben und hohe Infektionszahlen Raum für neue, noch gefährlichere Mutationen des Virus bieten, wird ausgeblendet.
Auch dem Arzt und Experten für öffentliche Gesundheit, Azeem Majeed, wäre es lieber, man würde in dieser Situation nicht weiter lockern. «Ich würde noch ein paar Wochen warten», sagte Majeed der Deutschen Presse-Agentur. Dann sei die Impfkampagne noch weiter voran geschritten und man könne noch klarer absehen, wie viele schwere Verläufe wirklich verhindert werden können. Gerade bei Massnahmen wie Abstand oder Masken sei es eigentlich sinnvoll, sie in Innenräumen beizubehalten. «Eine Maske tragen tut niemandem weh. Das sollte man bis zum Herbst weitermachen», so Majeed.
«Daten, nicht Termine»
Dass Boris Johnson nach einer kleinen Verschiebung seines «Tags der Freiheit», der zunächst schon für den 21. Juni geplant war, nun unbedingt an dem Juli-Datum festhalten will, hat viel mit Erwartungsmanagement zu tun. Zwar betont er seit Monaten, die Lockerungen von «Daten, nicht von Terminen» abhängig zu machen. Gleichzeitig schürt er durch die Nennung von möglichen Terminen aber doch so viel Hoffnung in seinem Volk, dass Zurückrudern schwerfällt.
Es ist eine ganz andere Rhetorik als etwa in Deutschland, wo man bereits seit Wochen angespannt mit steigenden Zahlen durch die Delta-Variante rechnet und auch eine Wiederverschärfung der Beschränkungen nicht ausschliesst. Auch wenn alle darauf hoffen mögen, ist keine Rede von einer «Einbahnstrasse Richtung Freiheit», wie Boris Johnson sie nicht müde wird auszurufen. Das macht es Lobbyverbänden leicht, bei jeglichem Zögern gegen die Politik zu wettern und ungeduldigen Hinterbänklern, mit Illoyalität zu drohen.
«Ich denke, es ist ein Fehler zu sagen, dass das eine Einbahnstrasse ist», meint Experte Majeed. Niemand könne vorhersehen, welche Varianten oder Entwicklungen aufkämen und ob Beschränkungen wieder nötig würden.
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel liess auf ihrer Abschiedstour in England am Freitag keinen Zweifel daran, dass sie ebenfalls kein grosser Fan von Boris Johnsons Spiel mit dem Risiko ist. «Die britische Regierung wird ihre Entscheidungen treffen», sagte sie bei ihrem Besuch auf dessen Landsitz in Chequers. «Aber ich bin sorgenvoll und skeptisch, ob das gut ist und nicht ein bisschen viel.»