Interne Dokumente China hielt Daten zu Coronavirus tagelang zurück

AP

3.6.2020

Ein Mitarbeiter eines Pop-Up-Labors in Wuhan macht einen Corona-Test: Die Stadt gilt als Ursprungsort des Virus.
Ein Mitarbeiter eines Pop-Up-Labors in Wuhan macht einen Corona-Test: Die Stadt gilt als Ursprungsort des Virus.
Bild: Keystone

Zu Beginn der Corona-Pandemie hat China die WHO nur mit einem Minimum an Informationen versorgt. Weil das Wissen über das neuartige Virus fehlte, konnte es sich um das 100- bis 200-Fache ausbreiten. Das zeigen interne Dokumente, die AP vorliegen.

China hat essenzielle Informationen über das neuartige Coronavirus mehr als eine Woche lang zurückgehalten. Die Nachrichtenagentur AP hat dazu interne Dokumente und E-Mails ausgewertet und zahlreiche Interviews geführt. Demnach besassen die chinesischen Behörden über Tage hinweg bereits detailliertes Wissen über den genetischen Code des Virus – Wissen, mit dem Tests, Medikamente und Impfstoffe entwickelt werden können.

Den Recherchen zufolge wurden Informationen über den neuen Krankheitserreger streng kontrolliert, auch weil private und staatliche Labore miteinander konkurrierten. Während die Weltgesundheitsorganisation China noch öffentlich für dessen Hilfe und die «umgehende» Veröffentlichung des genetischen Codes lobte, gab es WHO-intern schon Sorgen, dass das Land nicht genügend Informationen über die Risiken des neuen Virus teilte und damit wertvolle Zeit verspielte.

«Wir sind jetzt an dem Punkt, wo wir 15 Minuten, bevor CCTV berichtet, Bescheid bekommen», sagte der oberste WHO-Repräsentant in China, Dr. Gauden Galea, in einem internen Treffen, das aufgezeichnet wurde. CCTV ist der staatliche Sender China Central Television. Die WHO muss sich, was gesundheitliche Informationen betrifft, auf die Mitgliedsstaaten verlassen. Internationales Recht verpflichtet diese zwar zur Meldung relevanter Daten, doch hat die WHO keine Mittel, das auch durchzusetzen.

Das neue Coronavirus wurde erstmals am 2. Januar decodiert, am 30. Januar erklärte die WHO den weltweiten Notstand. In der Zwischenzeit breitete sich das Virus um das 100- bis 200-Fache aus, wie rückblickende Daten des Chinesischen Zentrums für Krankheitskontrolle und -Prävention zeigen. Die WHO und die in diesem Text genannten Funktionäre wollten nicht Stellung nehmen, ohne die Aufnahmen oder Transkripte der aufgezeichneten Treffen einzusehen. Diese hat die Nachrichtenagentur AP nicht weitergegeben, um ihre Quellen zu schützen.



Trump: China und WHO verschleiern Ausmass der Epidemie

Für die WHO kommen diese Enthüllungen zur Unzeit, nachdem US-Präsident Donald Trump am Freitag die Zusammenarbeit der USA mit der UN-Gesundheitsorganisation aufgekündigt hat. Sein Vorwurf: Die WHO habe mit China zusammengearbeitet, um das Ausmass der Epidemie zu verschleiern. Chinas Präsident Xi Jinping hielt dagegen, sein Land habe immer Informationen an die WHO und die Welt geliefert, und zwar in kürzester Zeit. Nach Informationen von AP stimmt weder das eine noch das andere.

Vielmehr zeigt sich, wie sehr die WHO irgendwo dazwischen gefangen war, während sie eindringlich nach mehr Daten verlangte. Die Weltgesundheitsorganisation wurde von China grösstenteils im Unklaren gelassen und erhielt nur ein Mindestmass an Informationen. Dennoch versuchte die WHO, China im besten Licht erscheinen zu lassen, wahrscheinlich, um das Land zu mehr Details zu bewegen. WHO-Funktionäre fragten sich, wie sie China unter Druck setzen könnten, ohne dabei die chinesischen Behörden zu verärgern oder Wissenschaftler zu gefährden.

«Unsere Führungskräfte und Mitarbeiter haben Tag und Nacht gearbeitet, um alle Mitgliedsstaaten gleichermassen zu unterstützen und mit Daten zu versorgen», teilte die WHO mit. Die Kommunikation mit den Regierungen sei offen und ehrlich gewesen. Keinen Kommentar dagegen gab es von der chinesischen Gesundheitskommission und dem Aussenministerium. Doch hat das Land in den vergangenen Monaten wiederholt seine Massnahmen verteidigt, während andere Länder – auch die USA – teilweise noch deutlich länger als China benötigten, um auf das Virus zu reagieren.

Ende Dezember 2019 fiel Ärzten erstmals auf, dass Patienten an einer ungewöhnlichen Lungenentzündung erkrankten. Sie baten kommerzielle Labore um Hilfe. Bis zum 27. Dezember hatte ein Unternehmen, Vision Medicals, den genetischen Code eines neuartigen Virus grösstenteils entziffert, das auffallende Ähnlichkeiten mit Sars besass. Es ging eine Meldung an die Behörden in Wuhan hinaus, die Tage später eine interne Warnung vor der ungewöhnlichen Lungenentzündung aussprachen.



Laboren dürfen ohne Erlaubnis nicht berichten

Am 30. Dezember wurde die renommierte Coronavirus-Expertin Shi Zhengli am Virologischen Institut Wuhan auf die Krankheit aufmerksam gemacht. Am 2. Januar hatte ihr Team das Virus komplett entschlüsselt. Und von da an lief es schief: Chinas oberste Gesundheitsbehörde – die Nationale Gesundheitskommission – gab eine vertrauliche Anweisung, die es Laboren verbot, ohne Erlaubnis über das Virus zu berichten.

Bis zum 5. Januar hatten zwei staatliche Labore und das Labor von Professor Zhang Yongzhen in Shanghai das Virus entschlüsselt. Zhang warnte die Gesundheitskommission, dass das Virus «wahrscheinlich ansteckend» sei. Doch die Öffentlichkeit wurde immer noch nicht informiert. Überall in der Region tauchten Verdachtsfälle auf. In Thailand nahmen Flughafenbehörden eine Frau beiseite, die aus Wuhan kam und an Schnupfen, Halsschmerzen und Fieber litt. Wissenschaftler der Chulalongkorn-Universität in Bangkok fanden bald heraus, dass sie sich mit einem neuen Coronavirus angesteckt hatte, doch fehlte ihnen ein genetischer Code aus China, um es abzugleichen.

Auf internen Treffen der WHO regte sich derweil Unmut über China. Dr. Michael Ryan, WHO-Verantwortlicher für Notfälle, sagte, es sei an der Zeit, «den Gang zu wechseln» und auf mehr Informationen zu drängen. Am 11. Januar schliesslich veröffentlichte Professor Zhang in Shanghai den genetischen Code des Coronavirus, noch vor den Gesundheitsbehörden. Einen Tag später folgten das Chinesische Zentrum für Krankheitskontrolle und -Prävention, das Virologische Institut in Wuhan und die Chinesische Akademie der Medizinwissenschaften.

Am 20. Januar warnten die chinesischen Behörden davor, dass das Virus sich unter Menschen ausbreite. Die WHO entsandte ein kleines Team nach Wuhan. Besorgt über den neuen Erreger reiste WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus nach Peking. Am Ende seiner Reise entschied sich die WHO schliesslich, am 30. Januar den weltweiten Notstand auszurufen. Tedros bedankte sich ausführlich bei China, ohne die vorherige Verärgerung der WHO zu erwähnen: «China hat bereits Unglaubliches geleistet, um die Übertragung des Virus auf andere Länder einzuschränken.»

Zurück zur Startseite