Angriffe auf ukrainische Infrastruktur Darum scheitert Putin bislang mit seiner Zermürbungstaktik

21.10.2022

Stromeinschränkungen in der Ukraine

Stromeinschränkungen in der Ukraine

Nach dem anhaltenden russischen Beschuss von Energieanlagen kommt es in der Ukraine zu Engpässen bei der Stromversorgung.

20.10.2022

Mit Ansage nimmt Russland nun verstärkt die wichtige Infrastruktur der Ukraine ins Visier – offenbar der Versuch einer Zermürbungstaktik. Doch bislang geht sie nicht auf.

Als wenige Hundert Meter von seiner Wohnung entfernt eine Rakete in ein Elektrizitätswerk einschlug, geriet Olexander Maistrenko nicht in Panik. Er rannte nicht in einen Luftschutzbunker und zog keine Evakuierung in Betracht – obwohl die kritische Infrastruktur in seiner Nachbarschaft wie auch andernorts in der Ukraine plötzlich zum Hauptziel der russischen Streitkräfte geworden ist.

Auch Maistrenkos Nachbarn beugen sich nicht. Dabei wurden bei dem Angriff am Dienstag in der Hauptstadt Kiew drei Menschen getötet. Teile des Kraftwerks wurden beschädigt, und etwa 50'000 Haushalte waren zeitweise ohne Strom, wie Bürgermeister Vitali Klitschko erklärte.

«Wir haben keine Angst, denn wir sind nicht nur logistisch, sondern auch moralisch vorbereitet», sagt Maistrenko, der nur Stunden nach dem Angriff mit zwei Nachbarn rauchend auf einer Bank vor ihrem Wohnhaus sass.

«Wir haben uns seit Kriegsbeginn vorbereitet.»

So sieht in der Ukraine die jüngste Phase im seit fast acht Monaten andauernden russischen Angriffskrieg aus. Moskau hat offen seine Absicht verkündet, verstärkt Kraftwerke und andere wichtige Infrastruktur anzugreifen. Aus Kreisen der Energiebehörde hiess es am Mittwoch, 40 Prozent des Stromnetzes seien schwer beschädigt worden. Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte, die russischen Truppen hätten seit dem 10. Oktober 30 Prozent der ukrainischen Elektrizitätswerke zerstört.

Doch Maistrenko und seine Nachbarn sehen sich gut gewappnet. Für mögliche Stromausfälle halte er Taschenlampen und Kerzen bereit, erklärt er. Wenn das Gas ausgehe, werde er vor dem Haus einen provisorischen Herd bauen und mit Feuerholz anheizen, das er gesammelt habe. Auch Flaschen mit abgefülltem Wasser und Lebensmittelkonserven hat er sicher verstaut.

Alle wüssten, dass sie viele Decken und warme Kleidung für den Winter bereithalten sollten, sagt Maistrenko. «Es war nie ein Geheimnis, dass dieses Kraftwerk ein Ziel ist, wir haben uns seit Kriegsbeginn vorbereitet.» Das habe die Nachbarinnen und Nachbarn zusammengeschweisst, die vorher nur wenig Kontakt untereinander gehabt hätten.

Die Angriffe kommen zu einem kritischen Zeitpunkt, denn der Winter naht. Am Donnerstag begann laut Bürgermeister Vitali Klitschko in Kiew offiziell die Heizperiode. Die Beheizung von Wohnungen und Büros wird in der Hauptstadt wie in anderen Ballungsräumen der Ukraine sowie auch in Russland von den Behörden zentral gesteuert.

Die Regierung gab ebenfalls am Donnerstag bekannt, dass die Energieversorgung im ganzen Land ab sofort zwischen 7 und 11 Uhr vormittags eingeschränkt werde. Das Gleiche gilt für die Strassenbeleuchtung in einigen Städten.

«Energie war immer eine ziemlich heilige Kuh für die Russen.»

Ein Gebiet, in dem Berichten zufolge Strom- und Wasserversorgung unterbrochen wurden, war die südukrainische Stadt Enerhodar. Sie liegt in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja, dem seit Kriegsbeginn besondere Besorgnis gilt. Auch eine Energieanlage in der Nähe von Selenskyjs Heimatstadt Krywyi Rih im südlichen Zentrum des Landes wurde nach Angaben der Regionalregierung schwer beschädigt.

Angriffe auf die Energieversorgung sind eine neue Taktik des Kremls in der Ukraine. «Energie war immer eine ziemlich heilige Kuh für die Russen, und sie behaupten, dass sie durch die Kontrolle der Energie das Land kontrollieren können», sagt die Sicherheitsexpertin Hanna Schelest von der Nichtregierungsorganisation Foreign Policy Council Ukrainian Prism mit Sitz in Kiew.

Die Versorgung mit russischem Gas setzt Präsident Wladimir Putin, der in vier illegal annektierten Regionen der Ukraine das Kriegsrecht verhängt hat, indes längst als Waffe ein – nicht nur gegen die Regierung in Kiew, sondern gegen energieabhängige Staaten in Europa.

Im Zug der neuen Strategie versuche Moskau, einen grossen Teil der ukrainischen Infrastruktur zu zerstören, in der Hoffnung, dass die Menschen für ihre Not letztlich die eigene Regierung verantwortlich machen würden, sagt Schelest.

Indem er die Zivilbevölkerung leiden lassen wolle, hoffe er, sie davon zu überzeugen, dass die Ukraine als Staat gescheitert und ein historischer Teil Russlands sei. Bislang gelinge dies jedoch offenbar nicht, weil sich die Wut der Ukrainerinnen und Ukrainer gegen Putin richte, sagt die Expertin.

Trotz zerstörter Infrastruktur geht das Leben überall im Land weiter: Ein Zug rollt am 28. September 2022 durch die Agglomeration von Charkiw.
Trotz zerstörter Infrastruktur geht das Leben überall im Land weiter: Ein Zug rollt am 28. September 2022 durch die Agglomeration von Charkiw.
KEYSTONE

Der Analyst Mason Clark vom Institute for the Study of War in Washington bezeichnet die jüngsten russischen Attacken auf zivile Ziele als «Terroranschläge, die die ukrainische Bevölkerung einschüchtern sollen». Schon seit Beginn des Kriegs verfolge die russische Regierung solche Zermürbungstaktiken – «im Irrglauben, dass sie die Ukrainer zur Kapitulation und zu Verhandlungen zwingen kann», sagt Clark.

Die Reparatur der beschädigten Infrastruktur fällt oft in die Verantwortung der lokalen Verwaltung. Die Wiederherstellung der Gas-, Wasser- und Stromversorgung habe Priorität, erklärten die Behörden in der Region Charkiw. Zudem sollten beheizte Notunterkünfte bereitgestellt werden, in denen Menschen im Winter Schutz finden.