DeutschlandDas unendliche Drama: Noch immer sind in Syrien Millionen vertrieben
SDA
27.8.2020 - 17:10
Khaled Ahmed Amash kann sich noch gut daran erinnern, wie schlimm die Lage vor fünf Jahren war. Sein Heimatort Ehsim im Nordwesten Syriens ist eigentlich ein beschauliches Dorf in einer bergigen Gegend – weit weg von allem, umgeben von Feldern und Olivenhainen.
Dort leben einfache Menschen, viele schuften in der Landwirtschaft. Doch Ehsim liegt auch in der Provinz Idlib, die zwischen den Anhängern von Machthaber Baschar al-Assad und Rebellen umkämpft ist. Damals, im Sommer 2015, tauchen immer wieder Hubschrauber der Armee über dem Ort auf und werfen ihre tödliche Fracht ab: Fassbomben, gefüllt mit Metallsplittern, die besonders viele Menschen verletzen. Ein Video aus dem Juni des Jahres, aufgenommen in einer Klinik, zeigt blutüberströmte Opfer nach einem besonders schweren Angriff.
«Irrsinnig», sei die Bombardierung damals gewesen, sagt Khaled Amash, ein Mann Anfang 50, schmaler Körper, kurzes Haar, grauer Bart. «Unglaublich.» Die Regimetruppen hätten alles angegriffen: «Die Märkte, die Hauptstrasse. Sie wollten damit sagen: Haut ab! Flieht!»
Eine Botschaft, die offenbar verfing. In grossen Scharen verliessen die Syrer in jenem Jahr ihre Heimat. Erst in die Türkei, dann weiter Richtung Balkan, auf dem Weg nach Deutschland und in andere Länder. Die UN meldeten damals, in Syrien spiele sich das weltweit grösste Flüchtlingsdrama ab. Kurze Zeit später, am 31. August 2015, sagt Kanzlerin Angela Merkel den Satz, der in die Geschichtsbücher eingeht: «Wir schaffen das.»
Schon damals sei die wirtschaftliche Lage in Ehsim schwierig gewesen, erinnert sich Khaled Amash, der einen kleinen Supermarkt betreibt, in dem er Lebensmittel und andere Dinge für den Alltag verkauft. Das Schicksal von ihm und seiner neunköpfig Familie ist so typisch für die lange Zeit des Leidens, die die Syrer ertragen müssen.
Bei den Bombardierungen seien bis heute 70 Prozent des Orts zerstört worden, auch sein Haus, erzählt er. Noch immer liegen die Trümmer am Strassenrand. Zwei Neffen kamen ums Leben. Seine Tochter, acht Jahre alt, sei durch eine Bombe verletzt worden, sagt Khaled Amash. Er zeigt auf seinen Arm. Dort seien bei ihr die Narben noch immer zu sehen. Früher hätten 15 000 Menschen in dem Ort gelebt. «Heute kannst du sie mit der Hand zählen, 50 Familien, vielleicht 200 Menschen.»
Khaled Amash gehört zu den vielen Syrern, die ein Ende des Konflikts herbeisehnen, der seit fast zehn Jahren tobt. In den vergangenen Monaten hat sich die militärische Lage beruhigt. Doch ein Frieden ist nicht in Sicht. De facto ist Syrien dreigeteilt: in die Gebiete unter Kontrolle von Regierungshängern und ihren Verbündeten Russland und Iran; von kurdischen Truppen; und von unterschiedlichen Rebellen. In einigen Grenzgebieten sind auch türkische Soldaten im Einsatz. Keine Seite ist stark genug, um noch grosse Geländegewinne zu verbuchen. Doch auch für ernsthafte Verhandlungen sind die Fronten zu verhärtet.
So spielt sich in dem Bürgerkriegsland ein unendliches Drama ab, das nicht mehr die grossen Schlagzeilen produziert. Die Corona-Pandemie, neue US-Sanktionen und die Krise im benachbarten Libanon haben auch Syriens Wirtschaft schwer getroffen und näher an den Abgrund gedrückt. Immer wieder sind Berichte über Engpässe bei Lebensmitteln und Medikamenten zu hören. Besonders dramatisch ist die Lage für die mehr als sechs Millionen Vertriebenen im eigenen Land.
Allein im Nordwesten Syriens, in der Region um die von Rebellen kontrollierte Stadt Idlib und deren Umland, leben rund 2,7 Millionen Menschen, die vor der Gewalt geflohen sind. Noch immer hausen die meisten von ihnen in Zelten in Lagern, andere in beschädigten Häusern. Für einige entstehen mittlerweile feste Unterkünfte.
Eine Wahl haben die Menschen kaum. Die wenigsten von ihnen wollen zurück in Gebiete unter Regierungskontrolle, aus Angst vor Verfolgung. Die Grenze zur Türkei ist seit Jahren geschlossen.
«Hier in unserer Gegend gibt es keine Jobs», sagt Khaled Amash. «Die Leute haben kein Einkommen mehr.» Er und seine Familie bauen Salat und Zwiebeln an, sie ernähren sich von Brot und Öl. Ein Sohn, der in die Türkei geflohen ist, schickt Geld über die Grenze.
Khaled Amash kennt die Geschichten von Bekannten, die es bis nach Deutschland geschafft haben, auch wenn er keinen Kontakt zu ihnen hat. «Weil ich dagegen bin zu fliehen», sagt er. «Ich will mein Land, meine Heimat, meinen Boden. Syrien zu verlassen, kam für mich nie in Frage. Das ist noch immer unser Land. Wir gehören zu Syrien.»
Auch heute gingen die Bombardierungen weiter, sagt er. Die Front ist von Ehsim nicht weit entfernt. Sollten die Kämpfe wieder in grösserem Massstab aufflammen, könnten sie schnell den Ort erreichen. Khaled Amash beteuert, er wolle lieber in der Heimat sterben als Reissaus nehmen: «Wir sind frei geboren worden, wir leben frei, wir werden frei sterben», sagt er. «Der einzige, dem wir uns beugen, ist Gott.»
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