Grossbritannien Die mächtige Minderheit: Wer über die Ära nach Boris Johnson bestimmt

SDA

13.8.2022 - 09:18

Eine Zuschauerin hält ein Schild mit der Aufschrift «in Liz we Truss». Foto: Ben Birchall/PA Wire/dpa
Eine Zuschauerin hält ein Schild mit der Aufschrift «in Liz we Truss». Foto: Ben Birchall/PA Wire/dpa
Keystone

Als Boris Johnson eingeblendet wird, bricht Jubel aus. Die Mitglieder der britischen Tory-Partei, die sich im englischen Cheltenham ein Bild von den Kandidaten für die Nachfolge des scheidenden «Partygate»-Premiers machen wollen, dürfen erst einmal in Erinnerungen an bessere Zeiten schwelgen. Ein auf grossen Leinwänden übertragenes Video fasst die Höhepunkte der letzten Jahre zusammen – zumindest aus Sicht der konservativen Partei: Die überwältigende Mehrheit von 80 Sitzen, die Johnson ihnen mit seinem Wahlsieg vor drei Jahren beschert hat, wirkt Dutzende Skandale später wie aus einem anderen Zeitalter. Doch die alte Boris-Begeisterung flammt leicht wieder auf. Nicht umsonst galt dieser in seinen Reihen als Wahlkämpfer lange als alternativlos.

Zurück im Hier und Jetzt haben die rund 160 000 Mitglieder der konservativen Partei in diesen Wochen die Wahl: Von wem wollen sie in Zeiten, in denen immer mehr Menschen ihre explodierenden Energierechnungen nicht mehr bezahlen können, in Europa ein Krieg tobt und in weiten Teilen Englands der Dürre-Notstand herrscht, regiert werden? Von Liz Truss (47), die trotz allem unmittelbare Steuergeschenke verspricht und sich als Margaret Thatcher des 21. Jahrhunderts inszeniert? Oder von Rishi Sunak (42), vormals Finanzminister und nun selbsterklärter Mann der unbequemen Wahrheiten, der erst die Inflation unter Kontrolle bringen will?

Viele haben ihre Entscheidung schon gefällt. Die Sitzreihen in Cheltenham sind gespickt mit Entschlossenen, die «Liz for Leader»-T-Shirts tragen oder «Ready for Rishi»-Plakate in die Höhe halten. Fragt man die Unentschiedenen, geht die Tendenz oft Richtung Truss, die in den parteiinternen Umfragen seit Wochen weit vorn liegt. Doch «Team Rishi» will sich nicht geschlagen geben. Ist es schwer, die Rishi-Sticker und Fähnchen loszuwerden? «Nein, nein», meint ein Helfer am Eingang, obwohl gerade viele Ankommende sein Angebot ausgeschlagen haben. «Ich glaube, viele sind noch unentschieden.» Bis Anfang September ist noch Zeit, online oder per Post abzustimmen. Der Arzt William Prothro hat sich für Sunak entschieden: «Er ist der Erwachsene von beiden. Er tut nicht so, als wäre Weihnachten und es sei Zeit, Geschenke zu vergeben.»

Die südwestenglische Grafschaft Gloucestershire, in der auch Cheltenham liegt, gehört zu den wohlhabenden Gegenden Englands. Trotzdem sind es die steigenden Kosten für Energie und Lebensmittel, die hier viele am stärksten umtreibt – gefolgt von der starken britischen Unterstützung für die Ukraine, von der etliche sich trotz ihrer Auswirkungen auf die Kosten wünschen, dass sie anhält.

Dass es ausserhalb der klimatisierten Halle am Rande einer Pferderennbahn in Cheltenham viel heisser ist als jahrzehntelang in Grossbritannien üblich und für grosse Teile Englands offiziell eine Dürre ausgerufen wurde, ist drinnen kaum Thema. Truss macht statt dem Klimawandel Wasserversorger und defekte Leitungen dafür verantwortlich, dass viele ihrer Landsleute nicht mehr mit dem Gartenschlauch ihre Rosen wässern dürfen. Den Anblick von «Getreidefeldern, auf denen Solarparks stehen», findet sie «traurig» und verspricht, die Regeln dafür schnellstmöglich zu ändern. Und: Da sei ja auch noch viel Gas in der Nordsee, das man «ausnutzen» müsse.

Auch dass die Kinderarmut besonders im Norden Englands trotz aller Versprechen der Regierung, die Lebensverhältnisse anzugleichen, stetig zunimmt, findet kaum Erwähnung. Truss und Sunak sprechen in diesen Wochen zu einem Publikum, das meist älter, weiss und mehrheitlich männlich ist. Es zählt, was bei diesem Publikum punktet. Truss wehrt sich gegen «Untergangspropheten» und versichert bei jeder Gelegenheit, Grossbritanniens beste Tage lägen noch vor dem Land.

Dass jemand unverblümt Klartext darüber spricht, in welch bitterer Lage sich das Vereinigte Königreich aktuell in vielerlei Hinsicht befindet, ist eher die Ausnahme. Umso mehr fällt es auf, als ein älterer Herr aufsteht und sagt: «Es fühlt sich fast so an, als würde gar nichts funktionieren.» Chaos an Flughäfen, Bahnhöfen, Häfen, mangelnde Arbeitskräfte, die ächzende Wirtschaft, der überlastete Gesundheitsdienst, dazu die Hitze. «Die Liste ist endlos», meint der Mann. Und Sunak? Verspricht, sich verpasster Termine im Gesundheitsdienst anzunehmen.

Die Mitglieder der Tories machen nicht einmal ein halbes Prozent der Wahlberechtigten im Vereinigten Königreich aus. Fühlt man sich mächtig, dazu zu gehören? Nein, nein, bei der Labour-Partei würde dieser Prozess ja genauso ablaufen, winken viele ab. Die Partei wähle ihre Führung und der Sieger werde dann eben auch Premier.

Der Klimaaktivist Rick, der seinen Nachnamen für sich behalten will, muss draussen bleiben. «Es fühlt sich nicht sehr demokratisch an», sagt er am Strassenrand, wo er die vorbeifahrenden Tories gemeinsam mit anderen Demonstranten und lautstarkem Protest empfängt. Sie fordern, den Kampf gegen die Klimakrise mit Nachdruck voranzutreiben. Andere setzen sich gegen soziale Benachteiligung ein. «Hungrig? Esst doch Steuersenkungen» (original: «Hungry? Let them eat tax cuts") steht auf einem ihrer Plakate. Dringt das nach drinnen, wo nur Parteimitglieder und Presse Zugang haben? «Man muss es zumindest versuchen», meint Rick.