Kampf um Kiew Dass die Russen langsamer vorrücken, «ist leider keine gute Nachricht»

Von Gil Bieler

1.3.2022

Satellitenbilder zeigen über 60 Kilometer langen russischen Militärkonvoi vor Kiew

Satellitenbilder zeigen über 60 Kilometer langen russischen Militärkonvoi vor Kiew

Der Konvoi erstrecke sich über etwa 64 Kilometer und ist damit deutlich länger, als die zunächst berichteten 27 Kilometer, erklärte das in den USA ansässigen Unternehmen Maxar Technologies zu den Aufnahmen.

01.03.2022

Die Russen haben in der Ukraine ihre Strategie angepasst, sagt ETH-Sicherheitsforscher Niklas Masuhr, was für Kiew nichts Gutes bedeutet. Den Menschen droht ein langer Städtekampf – mit hohen Opferzahlen.

Von Gil Bieler

1.3.2022

Herr Masuhr, ein gewaltiger Panzerkonvoi rollt auf Kiew zu: Welche Strategie erkennen Sie darin?

Was wir vor allem sehen, ist, dass die Russen ihre Strategie gewechselt haben. In den ersten Tagen haben sie versucht, Kiew im Handstreich einzunehmen. Zum einen aus der Luft, zum anderen hat man versucht, möglichst rasch Geländegewinne in Richtung Kiew zu erreichen. Dafür wurden russische Verbände aufgespalten und über Parallelstrassen vorgeschickt. Das erklärt zu einem gewissen Grad übrigens auch die hohen russischen Verluste, da die Truppen nicht in der Lage waren, sich gegenseitig zu unterstützen. Jetzt geht es ums Konsolidieren. Die Truppen versuchen, langsamer vorzugehen, dafür so, dass sich die einzelnen Verbände auch unterstützen können.

Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?

Zur Person
zVg

Niklas Masuhr ist Sicherheitsforscher am Center for Security Studies der ETH Zürich.

Was wir leider ebenfalls sehen, ist der verstärkte flächenmässige Beschuss durch die Artillerie. Darauf hatten die Russen in den ersten Tagen weitgehend verzichtet, wohl um den Reputationsschaden in der Heimat in Grenzen zu halten. Gleichzeitig hatte sich das russische Militär damit auch seiner grössten Stärke selbst beraubt. Auch das spricht dafür, dass der Kreml wohl davon ausging, Kiew rasch und relativ unblutig einnehmen zu können und die Ukraine damit quasi zu enthaupten. Putin wollte den Krim-Einmarsch auf nationaler Ebene wiederholen, was aber, ehrlich gesagt, absurd wäre. Dass man nun langsamer vorgeht und versucht, Kiew einzukreisen und danach womöglich zu erstürmen, ist aus humanitärer Sicht leider keine gute Nachricht.

Das heisst: Es sind viele Todesopfer zu befürchten.

Leider ja. Russland hat immer noch Möglichkeiten, zu eskalieren. Diese gewisse Freude über die Widerstandskraft der Ukrainer, die in den letzten Tagen mancherorts zu hören war, könnte verfrüht sein. Noch hat Russland klare Vorteile. Man sollte keine zu frühen Schlussfolgerungen über den Kriegsausgang ziehen.

Kiew ist eine Millionenstadt – lässt sich die überhaupt einnehmen?

Nein, zumindest nicht so leicht. Selbst wenn das erklärte Ziel erreicht wird und Präsident Woldomyr Selenskyi getötet würde, hiesse das ja nicht, dass überall in der Ukraine die Waffen niedergelegt würden. Wenn es zu einem Städtekampf kommen sollte, wäre dieser ziemlich sicher eine extrem langfristige und kostenintensive Angelegenheit. Das zeigen Erfahrungen aus anderen Städtekämpfen im irakischen Mossul oder in Marawi in den Philippinen. Kämpfe in Städten sind extrem aufwendig und leider humanitär sehr verlustreich.

Denken Sie, an diesem Punkt gibt es für Putin noch eine Option zum Rückzug?

Das ist schwierig zu sagen. Putins Kalkulationen nachzuvollziehen, ist seit seiner emotionalen Rede vom vergangenen Montag schwerer geworden. Er kämpft, wenn man so will, in drei Konflikten: erstens den konventionellen Krieg in der Ukraine. Zweitens das Abschreckungsspiel mit der Nato und den USA allem voran. Und drittens ist da noch die Situation im Inland. Ein längerer Städtekrieg, der nun möglich wird, könnte den Widerstand auch innerhalb Russland anheizen.

Der Westen, sagen Beobachter, sollte Putin nicht in die Enge treiben. Gelingt das so weit?

Die Nato und die USA sind zumindest sehr darauf bedacht. Sie haben wiederholt klargemacht, dass die Ukraine kein Nato-Mitglied sei. Die Nato führt aber weiterhin ihre Militärübung «Saber Strike» in Mittel- und Osteuropa fort, womit sie Russland signalisiert: Nato-Gebiet würde auf jeden Fall verteidigt. Der Ton aus Europa hat am Sonntag allerdings manche Beobachter überrascht.

Was meinen Sie damit konkret?

Unter anderem die Äusserung des ehemaligen schwedischen Aussen- und Premierministers Carl Bildt, es brauche in Russland einen «Regime Change», also einen Regimewechsel. Und das just an jenem Tag, an dem Putin mit seinen Atomwaffen gedroht hat. Das zeigt: Es ist für viele europäische Politiker eine ganz neue Situation, und während die Nato es seit ihrer Gründung mit Russland als militärischer Bedrohung zu tun hat, ist dies für viele natürlich eine neue Herausforderung.

Sprechen wir noch über die ukrainische Regierung: Sie bewaffnet Zivilisten und ruft sie dazu auf, die russischen Truppen mit Molotowcocktails zu attackieren. Kann das gutgehen?

Das ist natürlich ein sehr heikles Spiel. Die Ukrainer könnten sich in den Städten natürlich besser verteidigen, da nützt den Russen ihre Infanterie fast nichts. Doch das würde auch die humanitären Kosten, also Verletzte und Todesopfer, massiv in die Höhe treiben. Das war in jedem urbanen Verteidigungskrieg der Geschichte so. Und gerade die russischen Streitkräfte sind in früheren Konflikten nicht damit aufgefallen, dass sie zivile Opfer vermeiden würden. In der Ukraine war das die ersten Tage durchaus der Fall – aber ich rechne nun damit, dass nun auch diese Vorsicht deutlich gesenkt wird.