Ukraine «ist nur der Auftakt» Putins Plan lässt sich in Schund-Romanen nachlesen

Von Philipp Dahm

21.6.2022

Erklärt: Putins Problem mit der Nato

Erklärt: Putins Problem mit der Nato

Die Ukraine verlangt Russlands Armee mehr ab als vom Kreml erwartet. Doch das eigentliche Ziel Wladimir Putins ist das Zurückdrängen der Nato: Die europäische Tiefebene ist der Schlüssel zu Moskaus Sicherheit.

14.06.2022

Die Ukraine verlangt Russlands Armee mehr ab, als vom Kreml erwartet. Doch das eigentliche Ziel Wladimir Putins ist das Zurückdrängen der Nato: Die europäische Tiefebene ist der Schlüssel für Moskaus Sicherheit.

Von Philipp Dahm

21.6.2022

Auf dem russischen Büchermarkt ist schon lange klar, wie der Hase läuft: Die Verleger*innen «bereiten Russen auf einen vollständigen Krieg gegen die Ukraine, Nato und den Westen vor», schreibt der Osteuropa-Experte Sergej Sumlenny.

Die Fiktionen hätten dabei stets «Stalinismus» und «Nazitum» propagiert, so der frühere Leiter des Kiewer Büros der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung. Seit den frühen 2010ern seien demnach Bücher in den Verkauf gelangt, die relativ unverhohlen Stalin abfeiern – etwa in dem Werk «Seid stolz, nicht bedauernd! Die Wahrheit über das Zeitalter Stalins». Eine Welle der Militarisierung habe damit eingesetzt, schreibt Sumlenny.

Er präsentiert Fotos einer Buchhandlung, in der es auch Tornister und Stahlhelme zu kaufen gibt. Der Tenor der Bücher: Russland wurde «bestohlen» und betrogen. Besonders populär sind Geschichten, in denen der Held oder die Heldin in der Zeit zurückreist, um es dem Westen heimzuzahlen – etwa in «London muss zerstört werden: Die russische Landung in England».

Und während Moskau seit Februar tönt, man wolle die Nazis aus der Ukraine vertreiben, scheint an der Heimatfront der Wille gar nicht so gross zu sein, sich auch von der menschenverachtenden Politik eines Adolf Hitler zu distanzieren. Denn zumindest auf dem Markt der Fiktionen werden Zeitreisen nicht dazu genutzt, dem Führer den finalen Schuss zu verpassen. 

«Kamerad Hitler»

Im Gegenteil: Es gibt russische Bücher, in denen Hitler die Seiten wechselt – so wie in «Kamerad Hitler: Exekutiert Churchill» oder in «Kamerad Führer: Blitzkrieg-Triumph» geht es darum, dass Hitler die Front aufbricht, die sich gegen die Sowjetunion gestellt habe: Die Rote Armee und die Nazi-Schergen bekämpfen in diesen Werken gemeinsam die Neue Weltordnung.

Die Ukraine ist natürlich auch Teil solcher Fiktionen, aber am Ende ist sie eben auch nur ein Baustein beim Durchbrechen der Vormacht des Westens. «Der Krieg in der Ukraine ist nur ein Auftakt für Wladimir Putin», warnt der südkoreanische Journalist und Ex-Offizier Dong Yon Kim vor einem russischen Schulterschluss mit China gegen Washington und den restlichen Westen.

Tatsächlich ist das Problem Nato heute für den Kreml grösser denn je. Was Wladimir Putin so viel Sorgen bereitet, erklärt das Video ganz oben: Die wichtigsten Stichworte in diesem Strategie-Spiel lauten Lage, Lage und Lage. Der Krieg in der Ukraine kann demnach nur das Vorspiel sein, während der eigentliche Akt das Zurückdrängen des westlichen Bündnisses ist.

Polen potenzielle «Quelle der Bedrohung»

Die Länder, die Wladimir Putins heissen Atem am ehesten im Nacken spüren, sind auch jene Staaten, die sich am vehementesten für die Ukraine einsetzen: Polen und das Baltikum sind sich der Expansionsgelüste bewusst, die der Kreml hegt. Ende Mai etwa hat Moskaus Scherge und Tschetschenen-Führer Ramzan Kadyrow verkündet, dass nach Kiew Warschau im Visier sei.

Reine Propaganda: Die Russen kommen – und Washington brennt.

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow bekundete ebenfalls, Polen könnte «eine Quelle der Bedrohung sein». Die Antwort aus Warschau ist eindeutig: «Polen ist stolz, auf Putins Liste der unfreundlichen Saaten zu stehen», konterte Ministerin Anna Moskwa die Drohungen aus dem Osten.

Auch im Baltikum spitzt sich der neue Ost-West-Konflikt zu. Die Vorarbeit kam hier nicht von Putin selbst: Der Präsident überlässt derlei Provokationen seinen Stellvertretern. Und so präsentierte Jewgeni Fjodorow vergangene Woche ein Gesetz, das die Anerkennung der Unabhängigkeit von Litauen infrage stellt.

Vorzeichen: Litauen «illegal»

Fjodorow ist ein Rechtsextremist, der für Putins Partei Einiges Russland in der Duma sitzt. Die Anerkennung Litauen durch die Duma im Jahr 1991 sei «illegal», argumentiert der 59-Jährige. Zum einen habe die Duma nicht das Recht dazu gehabt, zum anderen habe ein anderes Gesetz explizit solche Vorgänge untersagt. Zudem habe es kein Referendum in Litauen gegeben.

Nato-Schutz: Deutsche Soldaten in Pabrade unweit von Vilnius in Litauen am 7. Juni 2022.
Nato-Schutz: Deutsche Soldaten in Pabrade unweit von Vilnius in Litauen am 7. Juni 2022.
AP

Litauen hat sich mit Reaktionen zurückgehalten – obwohl beispielsweise ein Referendum durchgeführt worden war, in dem 91 Prozent für die Trennung von Moskau votiert hatten. Dafür revanchiert sich Vilnius an anderer Stelle: Litauen hat mit Verweis auf die Sanktionen seit dem 18. Juni den Güterverkehr in die russische Exklave Kaliningrad unterbunden. Nur noch 40 bis 50 Prozent aller Waren komm noch durch.

Anton Alichanow, der Gouverneur von Kaliningrad, nennt den Vorgang «den ernsthaftesten Verstoss gegen das Recht des freien Transits von und nach Kaliningrad», kündigte Gegenwehr an und versprach, die Ausfälle über den Seeverkehr zu ersetzen. Kaliningrad ist ein wunder Punkt an Russlands westlicher Grenze, an dem der Konflikt mit der Nato schnell eskalieren könnte.

Briten bereiten sich auf Einsatz in Europa vor

Diese Gefahr hat auch der Westen erkannt: Der neue Generalstabschef der britischen Streitkräfte hat in einem Rundschreiben alle Soldaten aufgefordert, sich auf einen Einsatz in Europa vorzubereiten. Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine müsse sich Grossbritannien auch auf weitere russische Aggressionen auf dem europäischen Festland einstellen, argumentierte General Patrick Sanders.

«Es gibt jetzt den dringenden Zwang, eine Armee aufzubauen, die in der Lage ist, an der Seite unserer Verbündeten Russland auf dem Schlachtfeld zu besiegen», wird der Ranghöchste der Landstreitkräfte zitiert. Die Nato will ausserdem gezielt ihre Präsenz im Baltikum ausbauen, kündigte das Bündnis vergangene Woche an.

Die bereits existierenden multinationalen Gefechtsverbände durch weitere Kampfeinheiten und die Luft-, See-, und Cyberabwehr sollen verstärkt werden, hiess es aus Brüssel. Zusätzlich könnte eine mehrere Tausend Soldaten starke multinationale Brigade für die Verteidigung Litauens aufgeboten werden. Pro Staat rechnet die Nato mit der Aufstellung einer Brigade, die 3000 bis 5000 Soldat*innen umfasst.