Experte über die neue Welt «China und Russland sind die gefährlichsten Mächte»

Von Gregoire Galley

11.3.2023

Raketenhagel auf Ukraine

Raketenhagel auf Ukraine

Rund 80 Raketen liess Russland nach ukrainischen Angaben auf das Land niedergehen. Rund die Hälfte konnte die Luftabwehr abschiessen. In zehn Regionen trafen die Raketen zivile Infrastruktur und Wohnhäuser.

10.03.2023

Von der nuklearen Eskalation über Putins Rhetorik bis hin zu China und den USA – der Konflikt in der Ukraine wirft weiterhin viele Fragen auf. Experte Nicolas Hayoz schätzt die Weltlage ein.

Von Gregoire Galley

11.3.2023

Die USA verdächtigen China, Waffen an Russland liefern zu wollen. Wie würde sich das auf den Krieg in der Ukraine auswirken?
China ist in gewisser Weise der Joker Russlands. Insofern ist das chinesische Friedensprojekt ein Trugbild. Die Chinesen sind in diesem Krieg nicht neutral. Sie stehen zu 100 Prozent auf Putins Seite. Man darf nicht vergessen: China und Russland sind die gefährlichsten autokratischen Mächte der Welt.

Die Chinesen beobachten die Geschehnisse in der Ukraine sehr genau, da sie mit Taiwan einen ähnlichen Fall haben. Sowohl in der Ukraine als auch in Taiwan wollen Russland und China die westliche liberale Ordnung torpedieren, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vorherrscht.

Dennoch: Es ist unwahrscheinlich, dass China die Russen derzeit militärisch unterstützen wird. Wenn China Waffen liefern würde, wie zum Beispiel Mittelstreckenraketen, würde sich die Situation auf dem Schlachtfeld komplett ändern. Die Russen hätten dann einen erheblichen Vorteil.

«Fest steht, dass die Präsenz der Amerikaner nicht nur im Hinblick auf die Militärhilfe für die Ukraine unerlässlich ist.»

Nicolas Hayoz

Professor für Europastudien und Slawistik an der Universität Freiburg

Allerdings sträubt sich China dagegen, den Kreml-Truppen Waffen zu liefern, da es bei diesem Spiel grosse Verluste riskieren würde. Tatsächlich möchte Xi Jinping es sich mit vielen Ländern, darunter auch den USA, nicht verscherzen.

Inwiefern hat dieser Krieg die Bindungen zwischen den Ländern der Europäischen Union gestärkt?

Auch wenn es lange gedauert hat, hat es die Europäische Union geschafft, eine gemeinsame Front gegen Russland zu bilden. So haben viele Länder, etwa Deutschland, ihre Politik radikal geändert, indem sie sehr hart gegen die Machenschaften von Wladimir Putin vorgehen. In diesem Sinne ist sich die EU bewusst geworden, dass es keinen Sinn macht, sich Russland beispielsweise über den Handel annähern zu wollen.

Umgekehrt hat sie beschlossen, ihre Sicherheitspolitik zu ändern, indem sie ihren Militärhaushalt erhöht oder ihre Waffenproduktion intensiviert. Fest steht, dass die Präsenz der Amerikaner nicht nur im Hinblick auf die Militärhilfe für die Ukraine unerlässlich ist. Sondern auch aufgrund der Tatsache, dass sie die einzigen sind, denen es wirklich gelingt, die Russen davon abzubringen, Atomwaffen einzusetzen.

Besteht im Laufe der Zeit die Gefahr, dass diese Allianz nach und nach bröckelt?

Um zu verhindern, dass der Krieg länger dauert, muss die Ukraine schneller aufgerüstet werden. Stellen wir uns vor, dass die Ukraine die Russen nicht zurückdrängen kann und der Krieg ins Stocken gerät. In diesem Fall würden mehr europäische Länder Druck auf die Ukrainer ausüben, um einen Waffenstillstand in die Wege zu leiten. Wladimir Putin hofft, dass die gemeinsame europäische Front zersplittert. Und was wäre, wenn China Russland militärisch unterstützen würde? In diesem Fall würde der europäische Konsens, der die Ukraine unterstützt, noch mehr untergraben werden.

Glauben Sie, dass Russland in Zukunft versuchen wird, andere Länder zu annektieren?

Russland versucht, die Umrisse der Sowjetunion wieder aufzubauen. Russland war schon immer besessen davon, die Ukraine im eigenen Einflussbereich zu behalten. In Moldawien, in der Region Transnistrien, sind bereits russische Truppen stationiert. In Kasachstan gibt es ebenfalls eine grosse russische Minderheit. Russland will diese Länder nicht annektieren, sondern vielmehr eine wichtige Einflusszone in ihnen behalten. Hier geht es um die Idee des Imperialismus. Um diese Politik umzusetzen, setzen die Russen Energie, Nahrungsmittel oder auch Informationen als Waffen ein.

Wie gross ist die Gefahr einer nuklearen Eskalation?

Wladimir Putin nutzt die atomare Bedrohung, um dem Westen und den Ukrainern Angst zu machen. Diese Rhetorik war ein Fehlschlag, da sie weder den Widerstand der Ukrainer noch das Engagement des Westens erschüttert hat. Dennoch: Können wir sicher sein, dass Wladimir Putin niemals Atomwaffen einsetzen wird? Nehmen wir an, die Ukrainer würden den Krieg gewinnen. In diesem Fall könnte Putin eine taktische Atomwaffe einsetzen. Das Risiko wäre dann unkalkulierbar, da er genau weiss, dass die NATO gewaltsam reagieren würde.

«Ich glaube nicht, dass Wladimir Putin eine Atomwaffe einsetzen möchte, aber man sollte seine Drohungen dennoch ernst nehmen.»

Nicolas Hayoz

Professor für Europastudien und Slawistik an der Universität Freiburg

Aus diesem Grund würde Putin, wenn er eine Atomwaffe einsetzen würde, unweigerlich einen Krieg mit dem Westen beginnen. Die Amerikaner haben den Russen zu verstehen gegeben, dass sie nicht direkt in den Konflikt verwickelt werden wollen, dass sie aber im Falle eines Atomangriffs sofort reagieren würden, da sie der nukleare Schutzschirm der Europäer sind. Zusammenfassend kann man sagen, dass ich nicht glaube, dass Wladimir Putin eine Atomwaffe einsetzen möchte, aber man sollte seine Drohungen dennoch ernst nehmen.

Wie stehen die Chancen für einen Putsch?
Putin wird nicht Opfer eines Staatsstreichs werden, wie wir es in der Vergangenheit in Afrika oder Lateinamerika gesehen haben. Er hat ein unglaublich hierarchisches System geschaffen, eine uneinnehmbare Festung. Hinzu kommen sehr mächtige Sicherheitsdienste.

Putin muss sich auch vor seinem Volk schützen. In diesem Sinne hat er alles daran gesetzt, seine Gegner zu liquidieren. Abgesehen von einer vernichtenden Niederlage in der Ukraine, ähnlich dem Debakel des Zarenreichs 1917 im Ersten Weltkrieg, ist es unwahrscheinlich, dass Putin fällt. Dazu müsste sich das Militär oder die Elite gegen ihn wenden. Doch wie sollten sie dies erreichen? Das scheint sehr unwahrscheinlich, da in Russland jeder überwacht wird.

«Es wird keinen klassischen Putsch in Russland geben, da das Land komplett auf den Gehorsam gegenüber seinem Führer ausgerichtet ist.»

Nicolas Hayoz

Professor für Europastudien und Slawistik an der Universität Fribourg

Darüber hinaus ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass der Krieg in der Ukraine letztlich die Krönung von Putins Karriere ist. Er nutzt den Konflikt, um das Regime weiter zu verstärken.

Letztlich gibt es mehrere Szenarien, die im Falle eines Sieges oder einer Niederlage in der Ukraine denkbar sind, aber eines ist sicher: Es wird keinen klassischen Putsch in Russland geben, da das Land komplett auf den Gehorsam gegenüber seinem Führer ausgerichtet ist.

Wie sehen Sie den weiteren Verlauf des Konflikts?

Vieles ist unberechenbar. Solange Putin da ist, wird es keinen Ausweg geben. Ein Sieg der Ukraine würde viele Fragen aufwerfen. Man müsste sich fragen, wie man das Land wieder aufbauen kann und wie man Russland nach diesem Konflikt auf der internationalen Bühne betrachten soll. Ich habe den Eindruck, dass die Nachkriegszeit banalisiert wird, denn die Herausforderungen werden enorm sein.

Welche Ereignisse haben Sie seit Beginn des Konflikts am meisten beeindruckt?

Das schrecklichste Ereignis ist die Tatsache, dass der Krieg überhaupt begonnen hat. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass Wladimir Putin so töricht ist, diesen so absurden Konflikt auszulösen. Es ist unglaublich, dass man so besessen davon ist, ein Land zerstören zu wollen. Im gleichen Sinne ist es genauso töricht zu glauben, dass die Ukraine eine Nation ist, die von den Vereinigten Staaten gegängelt wird.

«Ich konnte mir nicht vorstellen, dass wir im Jahr 2022 noch einmal so viele Gräueltaten sehen würden.»

Nicolas Hayoz

Professor für Europastudien und Slawistik an der Universität Freiburg

Auch andere Ereignisse haben mich geprägt. In diesem Sinne ist es faszinierend, den Widerstand der Ukrainer gegen die russischen Invasoren zu sehen. Es gelang den Ukrainer*innen, viele Experten Lügen zu strafen, die glaubten, dass Putins Armee das Land in nur wenigen Wochen überrollen würde. Darüber hinaus war ich auch von den tragischen Ereignissen in Butscha stark betroffen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass wir im Jahr 2022 noch einmal so viele Gräueltaten sehen würden. Schliesslich ist es auch wichtig zu betonen, wie sehr es dem russischen Regime gelungen ist, eine Mehrheit für diesen Krieg zu gewinnen.