1 Monat Unruhen im Iran «Sie sind bewaffnet, aber wir sind in der Überzahl»

DPA, gbi

15.10.2022 - 10:59

Weltweite Proteste gegen Tod von Iranerin Mahsa Amini dauern an

Weltweite Proteste gegen Tod von Iranerin Mahsa Amini dauern an

Die Proteste nach dem Tod der Iranerin Mahsa Amini dauerten am Dienstag an. Vor der iranischen Botschaft in Athen verbrannten Demonstranten Bilder von Ayatollah Ali Khamenei, dem Obersten Führers des Iran.

28.09.2022

Hoffnung und Verzweiflung, Proteste und Gewalt: Vor einem Monat starb die 22-jährige Mahsa Amini – und wurde zur Symbolfigur eines Freiheitskampfes, der die Islamische Republik noch immer erschüttert.

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Als die junge iranische Kurdin Mahsa Amini in einem Spital in Teheran um ihr Leben ringt, geht ein Foto um die Welt. Angeschlossen an einen Beatmungsschlauch liegt die 22-Jährige mit ihren schwarzen lockigen Haaren auf der Intensivstation. «Und dann war sie tot», erinnert sich die Medizinstudentin Mahnas an einem Herbsttag an Amini, die wie keine andere Iranerin zum Symbol des landesweiten Widerstands gegen das Regmie geworden ist.

Der Tod der jungen Frau ist am heutigen Samstag genau einen Monat her. Und die Protestwelle, die durch diese Tragödie losgetreten wurde, reisst nicht ab. Im Gegenteil.

«Das was Mahsa passiert ist, kann uns allen jungen Frauen hier passieren», erzählt die Studentin Mahnas in der Hauptstadt. Wie Tausende andere Frauen ging sie in den letzten Wochen immer wieder auf die Strasse – nicht nur aus Protest gegen islamische Kleidervorschriften. «Es geht hier um unser Leben». Wenn die 23-Jährige an die Proteste denkt, macht sich auch Wut breit. «Wir waren ja eigentlich ganz friedlich, sind es auch weiterhin. Aber wenn sie uns zusammenschlagen, dann schlagen wir zurück.»

Was geschah nach Aminis Tod?

Die 22-Jährige war wegen eines schlecht sitzenden Kopftuchs von der Moralpolizei festgenommen worden. Doch was geschah danach?

In einem offiziellen Bericht sprechen die Behörden von einer Vorerkrankung, deshalb soll Amini in einer Polizeistation zusammengebrochen und ins Koma gefallen sein. Doch an der staatlichen Version gibt es erhebliche Zweifel.

Das Bild der im Spital liegenden Mahsa Amini hat die iranische Gesellschaft aufgerüttelt.
Das Bild der im Spital liegenden Mahsa Amini hat die iranische Gesellschaft aufgerüttelt.
Bild: Keystone

Der Vorwurf der Kritiker*innen: Tod durch Polizeigewalt. Ihre Familie, die seitdem unter Druck gesetzt wird, bestreitet gesundheitliche Probleme ihrer Tochter. Nur einen Tag nach ihrem Tod wurde Mahsa Amini in ihrer Heimatstadt in der iranischen Provinz Kurdistan beerdigt, offensichtlich ohne Autopsie.

Richteten sich die Proteste zu Beginn aus Bestürzung oder Trauer noch gegen die islamischen Vorschriften, sind die Demonstrationen längst zu einem Belastungstest für das gesamte Herrschaftssystem der Islamischen Republik geworden. Damit immer weniger Informationen nach aussen dringen und die protestierenden Menschen sich nicht untereinander verständigen können, schränkt die Landesführung auch die Nutzung des Internets ein.

Proteste erfassen verschiedene Gesellschaftsschichten

«Ich sehe die Proteste schon in dem grösseren Kontext eines inneriranischen Kulturkampfes, der tatsächlich so alt ist wie die Islamische Republik selbst», sagt die Iran-Expertin Azadeh Zamirirad in einem Podcast der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik. Sie sieht in den Protesten, die inzwischen mehrere gesellschaftliche Schichten erreicht haben, eine neue Dynamik.

Die Kundgebungen reihten sich jedoch auch in den jüngeren Unmut im Land ein. «Wir erleben eine Protestwelle nach der anderen, und es gibt genügend Unmut, genügend Wut, genügend Frustration im Land, um die Menschen auf die Strasse zu bringen.»

Offener Brief: Bundesrat soll Iran-Sanktionen übernehmen

100 Schweizer Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft fordern in einem offenen Brief den dazu Bundesrat auf, Sanktionen gegen das Regime im Iran zu ergreifen und die Demokratiebewegung zu unterstützen. Unterzeichnet haben den Appell unter anderen die Schriftstellerin Sibylle Berg, die Historikerin Caroline Arni, der Historiker und frühere Grünen-Politiker Josef Lang sowie der Regisseur und Autor Milo Rau. Die Verfasser*innen stellen sechs Forderungen an Bern: den Nachvollzug sämtlicher Wirtschaftssanktionen von EU und USA gegenüber dem Iran; ein lebenslanges Einreiseverbot für Mitglieder des islamischen Regimes, der Revolutionsgarde und der paramilitärischen Miliz Basidsch; Einfrierung sämtlicher Gelder des islamischen Regimes, der Revolutionsgarde und der Basidsch auf Schweizer Bankkonten; die Revolutionsgarde und Basidsch sollen als Terrororganisationen eingestuft und der iranische Botschafter in Bern einbestellt werden. Diese Massnahmen «sofort an die Hand zu nehmen», heisst es.

Wie bereits in der Vergangenheit hat der Staatsapparat brutal auf die Proteste reagiert und sowohl Sicherheitskräfte als auch Milizen mobilisiert, um die Demonstrationen zu stoppen. Mehr als 200 Menschen sollen nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen getötet worden sein. Tausende seien verletzt oder auch verhaftet worden.

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Und auch auf der Seite von Polizei und Staatsmacht habe es Opfer gegeben, nachdem sich die Demonstrant*innen immer verzweifelter gegen den harten Kurs der Regierung entgegen gestelltn hatten.

«Wir haben etwas angefangen, und es gibt in der Tat kein Zurück mehr», sagt Omid, ebenfalls Medizinstudent in Teheran. Wie seine Freundin Mahnas blickt er entschlossen in die Zukunft. «Wenn wir jetzt aufhören, dann ist das Blut von Mahsa umsonst geflossen. Wenn wir jetzt aufhören, dann müssen wir weiter mit Hoffnungslosigkeit leben.»

Auch eine iranische Architektin, die aus Angst vor Repressionen anonym bleiben will, sagt zu blue News. «Die Situation wird sich kaum in einigen Tagen verbessern, aber es ist ein Anfang. Für die Frauen. Und für jede Seele, die uns unterstützt. Sodass wir hoffentlich eines Tages einen freien Iran erleben dürfen.»

Auch systeminterne Kritik

Hoffnungslosigkeit, das sei der grösste Feind einer jeden Regierung, sagt ein Universitätsprofessor in Teheran. «Dann hat man vor nichts mehr Angst», sagt der Akademiker am Telefon. «Es gibt nun mal keine dunklere Farbe als Schwarz.»

Ging es zu Beginn noch um Kritik am Kopftuchzwang oder der anhaltenden Wirtschaftskrise, haben die Proteste seiner Einschätzung nach eine völlig neue Dimension erreicht. «Es geht um das Recht auf ein normales Leben mit den in der ganzen Welt anerkannten Kriterien», sagt der Professor. Auch deshalb laute der Slogan der Proteste: «Frauen, Leben, Freiheit».

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Die Staatsführung reagiert auf die landesweiten Proteste mit einer Rhetorik aus vergangenen Zeiten. Für Aussenminister Hussein Amirabdollahian werden sie wieder einmal von «ausländischen Feinden» des Landes gesteuert. «Unruhen, Brandstiftungen und Terroroperationen haben nichts mehr mit friedlichen Protesten zu tun», sagte er zu den Protesten. Und aus seiner Sicht geniesst die Führung des Landes die Unterstützung des Volkes. Der Iran sei «kein Land der Staatsstreiche, sondern ein Anker der Stabilität und Sicherheit.»

Doch auch Anhänger*innen des Systems äussern Kritik und bemühen sich um versöhnliche Töne. Irans Justizchef etwa schlug erstmals einen Dialog mit Gegner*innen der islamischen Führung vor – ruderte einige Tage später jedoch auch wieder zurück und forderte «kein Erbarmen» für Unruhestifter*innen.

Während Expert*innen längst einen gesellschaftlichen Umbruch ausmachen, bleiben die politischen Folgen ungewiss. «Für viele derjenigen, die auch heute auf die Strasse gehen, auch gerade aus der älteren Generation, bestand das Ziel eben klar in einer demokratischen Transformation dieses Staates», sagt etwa Zamirirad. Doch Revolutionen seien ein langer Prozess.

Das Problem: Eine klare Führung fehlt

Der Professor in Teheran sieht das ähnlich: «Das Problem jedoch ist für beide Seiten, dass diese Proteste immer mehr Momentum finden, aber kein Ende und somit auch zu keinen Ergebnissen führen.» Ihnen fehle auch eine klare Führung.

Der 25 Jahre alte Omid wünscht sich, dass die Staatsführung Fehler eingestehen würde. Niemand glaube ihre Lügen, sagt er. «Sie sind bewaffnet, aber wir sind in der Überzahl.»

Ein 30-jähriger Iraner bringt die Stimmungslage gegenüber blue News wie folgt auf den Punkt: «Wir haben nichts mehr zu verlieren.» Er würde «lieber auf der Strasse getötet als verhaftet zu werden.» Warum? «Weil niemand weiss, was mit dir geschieht, nachdem du verhaftet wurdest.»

Nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini gehen auch in der iranischen Hauptstadt Teheran Tausende Menschen auf die Strasse.
Nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini gehen auch in der iranischen Hauptstadt Teheran Tausende Menschen auf die Strasse.
Uncredited/AP/dpa