Wegen Christchurch Erdogan droht «Kiwis»: «Eure Grossväter kehrten in Särgen zurück»

Philipp Dahm

20.3.2019

Am 18. März, dem 104. Jahrestag des Siegs über die alliierte Flotte, spricht Recep Tyaaip Erdogan in Canakkale zu den Massen und vergreift sich gegenüber Australien und Neuseeland schwer im Ton.
Am 18. März, dem 104. Jahrestag des Siegs über die alliierte Flotte, spricht Recep Tyaaip Erdogan in Canakkale zu den Massen und vergreift sich gegenüber Australien und Neuseeland schwer im Ton.
Bild:  Keystone

Wegen der Untat von Christchurch ist zwischen der Türkei auf der einen Seite und Neuseeland sowie Australien andererseits ein diplomatischer Kleinkrieg entbrannt. Der Grund: Erdogans Wahlkampf-Hetze.

Der Countdown läuft – noch elf Tage bis zur Kommunalwahl in der Türkei. Für die bisherigen Machthaber sieht es nicht gut aus: Die AKP-Partei von Staatschef Recep Tayib Erdogan regierte bisher in einer Phase des wirtschaftlichen Booms, doch mittlerweile hat eine Rezession das Land erfasst. Die Inflation konnte zwar gerade auf unter 20 Prozent gedrückt werden, aber die Menschen spüren dennoch im Portemonnaie, dass sich der Wind gedreht hat.

Präsident Erdogan markiert im Wahlkampf traditionell den starken Patrioten, den grossen Osmanen und Behüter der Muslime. Und was tun Politiker oft und gern, wenn es innenpolitische Probleme gibt? Sie stürzen sich auf die Aussenpolitik. Insofern kann es kaum verwundern, dass der Mann die Bluttat von Neuseeland für seine Sache nutzt.

«Eure Grossväter waren hier ...»

Seit dem Wochenende zeigte Erdogan auf Wahlkampfveranstaltungen immer wieder das Video, das der Täter während seines Amoklaufs geschossen hat. Das allein ist schon fragwürdig, doch in Kombination mit seinen Kommentaren wird aus einer unappetitlichen Geschmacklosigkeit ein handfester Skandal mit diplomatischen Folgen.

Erdogan fordert zudem die Todesstrafe für den Täter und droht: «Wenn Neuseeland ihn nicht zur Rechenschaft zieht, werden wir dies tun – auf die eine oder andere Weise.» Weiter sagt er bei einem Auftritt am Montag martialisch: «Wir sind seit tausend Jahren hier, und wir werden hier sein bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Ihr werdet aus Istanbul kein Konstantinopel machen», zitiert ihn die staatliche Nachrichtenagentur «Anadolu».

Konstantinopel alias Istanbul auf einer Ansichtskarte von 1910.
Konstantinopel alias Istanbul auf einer Ansichtskarte von 1910.
Bild:  Gemeinfrei

Und Erdogan giftet weiter: «Eure Grossväter waren hier und haben gesehen, dass wir da sind. Die einen von ihnen sind zurückgegangen, die anderen kehrten in Särgen zurück. Wenn Ihr mit derselben Absicht hierherkommt, werden wir euch erwarten.» Der Präsident, der 1975 ein anti-semitisches Theaterstück geschrieben hat, spielt auf die Schlacht von Gallipoli an, in der mehr als die Hälfte der beteiligten Soldaten getötet oder verletzt wurden. Damals heisst Istanbul noch Konstantinopel und die Türkei noch Osmanisches Reich.

ANZAC-Truppen blutig aufgerieben

Das Land ist ein Verbündeter des deutschen Kaisers. Vom Februar 1915 bis Januar 1916 versuchen Truppen aus Frankreich, Grossbritannien, Britisch-Indien, Australien und Neuseeland erfolglos auf der Halbinsel Gallipoli zu landen. So wollen die Alliierten einen Brückenkopf bilden, um Konstantinopel zu bedrohen und die Dardanellen-Meerenge absichern zu können, die der Schlüssel für die Kontrolle des Schwarzen Meeres ist.

DIE HMS Irresistible sinkt im März 1915 nicht durch Treffer von Küstenbatterien , sondern ist auf eine Miene gelaufen. Von elf Schiffen der Royal Navy im gallipoli-Einsatz kehrten nur fünf zurück.
DIE HMS Irresistible sinkt im März 1915 nicht durch Treffer von Küstenbatterien , sondern ist auf eine Miene gelaufen. Von elf Schiffen der Royal Navy im gallipoli-Einsatz kehrten nur fünf zurück.
Bild: Gemeinfrei

Knapp 550'000 Soldaten und elf Kriegsschiffe werden dafür aufgeboten, doch es gelingt den Angreifern nicht, die zum Teil zahlenmässig unterlegenen Verteidiger zurückzudrängen. Die Offensive wird nach dem Kriegseintritt Bulgariens abgebrochen. 190'000 Soldaten 110'000 sind verletzt, auf der Gegenseite sind es 88'000 tote und 65'000 kranke Infanteristen.

George Lamberts gemälde «Die Anzac-Landung 1915».
George Lamberts gemälde «Die Anzac-Landung 1915».
Bild: Gemeinfrei

Unter den Opfern sind besonders viele ANZAC-Männer aus Australien und Neuseeland: Weil ein gewisser Admiral namens Winston Churchill die Osmanen nach ersten Angriffen für geschlagen hält, landen nicht britische Elitetruppen, sondern gewöhnliche Infanteristen von der Südhalbkugel am Strand von Gallipoli, wo sie blutig aufgerieben werden. Der Jahrestag der ersten Landung ist in Australien und Neuseeland seither der höchste nationale Feiertag.

«Schadet dem Ansehen der Türkei»

Recep Tayyip Erdogan hat sich also ganz bewusst eine emotionale, geschichtsträchtige Metapher gesucht, um bei seinen potenziellen Wählern Eindruck zu schinden – und um den fünften Kontinent gegen sich aufzubringen.

Asutralische Soldaten im Schützengraben von Gallipoli.
Asutralische Soldaten im Schützengraben von Gallipoli.
Bild:  Gemeinfrei

Doch auch im Inland sorgt das Vorgehen für Verstimmung: CHP-Vize-Fraktionschef Engin Altay sagt beispielsweise, es sei «sehr falsch», den Mord-Clip zu zeigen. «So etwas zu einem innenpolitischen Mittel zu machen, schickt sich nicht und schadet sowohl seinem Ansehen als auch dem der Türkei.»

Erdogan mit Dinosaurier – ein Bild mit Symbolcharakter: Der Präsident weiht am 20. März in Ankara einen themenpark ein.
Erdogan mit Dinosaurier – ein Bild mit Symbolcharakter: Der Präsident weiht am 20. März in Ankara einen themenpark ein.
Bild: Keystone

Trotz breiter Kritik führt der AKP-Chef am Dienstag in der nordtürkischen Stadt Eregli schon wieder Teile des Christchurch-Videos öffentlich vor – diesmal mit der scheinbar hehren Begründung, er wolle so wachsenden Hass und die vielen Vorurteile gegen den Islam belegen. Und das, obwohl er die Bilder mit Aufnahmen von CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu mischt, der in der Vergangenheit islamistischen Terror kritisiert hatte. «Seht euch doch nur an, was der sagt», kommentiert der Istanbuler. «[Kilicdaroglu] spricht von Terror, der von der islamischen Welt begangen wird. Bist du denn kein Muslim?»

«Missverständnisse aus dem Weg räumen».

Vielleicht wäre die Reaktion des Türken verständlich, wenn die Morde von Christchurch dort mit Achselzucken aufgenommen worden wären. Wenn die christliche Mehrheit den Fall ignoriert hätte, weil Muslime die Opfer sind. Doch gerade weil Neuseeländer und auch Australier nach dem Anschlag Herz und Mitgefühl bewiesen haben, weil über die Grenzen der Religion hinweg Solidarität demonstriert und gelebt wurde, sind Erdogans Aussagen nicht nur unverständlich, sondern auch inakzeptabel.

Das sieht auch der australische Regierungschef Scott Morrison so. «Ich empfinde das als sehr beleidigenden Kommentar, natürlich tue ich das», echauffiert sich Morrison im Sender ABC. «Und ich werde den türkischen Botschafter heute zu einem Treffen mit mir einbestellen, um diese Angelegenheit zu erörtern.» Neuseelands Vize-Premierminister Winston Peters reist deswegen heute in die Türkei, um «Missverständnisse aus dem Weg zu räumen».

Osmanische Küstenbatterie bei den Dardanellen: Das Geschütz war einst auf dem deutschen Panzerkreuzer Roon befestigt.
Osmanische Küstenbatterie bei den Dardanellen: Das Geschütz war einst auf dem deutschen Panzerkreuzer Roon befestigt.
Bild: Deutsches Bundesarchiv

Peters, der auch Neuseelands Aussenminister ist, werde dort «auf unverblümte Art und Weise» deutlich machen, dass die muslimische Gemeinde in Neuseeland «die Unterstützung aller Neuseeländer» habe, kündigt Neuseelands Premier Jacinda Ardern an: Was geschehen ist, sei in Neuseeland noch nie dagewesen. Der Zeitung «NZ Herald» zufolge wird Peters erst nach Indonesien reisen. Wann genau er in der Türkei ankommt und wen er trifft, ist noch nicht bekannt.

Hier noch die Bilder des Tages:

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