Ein Jahr Giorgia Meloni «24 Stunden Achterbahn»

Von Christoph Sator, dpa/tgab

25.9.2023

Die italienische Premierministerin Giorgia Meloni spricht während der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. September 2023 in deren Hauptquartier in New York.
Die italienische Premierministerin Giorgia Meloni spricht während der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. September 2023 in deren Hauptquartier in New York.
MIGUEL RODRIGUEZ/KEYSTONE

Ein Jahr ist es her, dass Giorgia Meloni in Italien die Wahl gewann. Im Ausland waren die Sorgen gross, dass das Land weit nach rechts rücken könnte. Heute sind die internationalen Partner recht zufrieden. Aber Meloni will mehr.

Von Christoph Sator, dpa/tgab

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Vor rund einem Jahr übernahm Postfaschistin Giorgia Meloni die Amtsgeschäfte in Italien.
  • Seitdem ist sie in der internationalen Politik zu einer festen Grösse geworden.
  • Zuhause in Rom, in der Koalition mit zwei weiteren Rechtsparteien, ist die 46-Jährige unbestritten die Nummer eins.
  • Doch das Thema Migration könnte ihr das Genick brechen.

Giorgia Meloni im Bundeskanzleramt, im Weissen Haus, vor den Vereinten Nationen: Italiens Ministerpräsidentin ist in der internationalen Politik zu einer festen Grösse geworden. Welch Unterschied zum September vor einem Jahr. Als ihre Ultrarechts-Partei Fratelli d'Italia die Wahl gewann, stellte sich halb Europa die Frage, wie nun mit Meloni umzugehen sei. Das hat sich erledigt. Beim Treffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf der Flüchtlingsinsel Lampedusa gab es kürzlich sogar Wangenküsschen.

Zuhause in Rom, in der Koalition mit zwei weiteren Rechtsparteien, ist die 46-Jährige unbestritten die Nummer eins. Nach zwölf Monaten stimmen auch die Umfragewerte noch – keineswegs eine Selbstverständlichkeit, schon gar nicht in Italien. Die Fratelli d'Italia (Brüder Italiens, benannt nach der ersten Zeile der Nationalhymne, mit Wurzeln in der postfaschistischen Bewegung) liegen bei etwa 28 Prozent, zwei Punkte über dem Wahlergebnis.

Gekommen um zu bleiben

Italiens erste Frau an der Regierungsspitze ist gekommen, um zu bleiben. In der Zeitschrift «Chi» klagte die Mutter einer siebenjährigen Tochter zwar, dass ihre Tage jetzt aus «24 Stunden Achterbahn» bestünden. «Manchmal wünschst Du Dir auszusteigen, einen Moment innezuhalten und ins normale Leben zurückzukehren. Aber das kommt Dir nur für ein paar Augenblicke in den Sinn und ist dann gleich wieder weg.»

Die jetzige Legislaturperiode dauert noch bis 2027. So lange halten es italienische Regierungschefs eigentlich nie aus. Der Rechtsnationalistin traut man das zu. Den staatlichen Fernsehsender RAI hat sie weitgehend auf Linie gebracht. Manche spötteln schon über «Tele-Meloni». Vom Privatfernsehen ist wenig zu befürchten. Viele Sender gehören der Familie von Silvio Berlusconi, der bis zu seinem Tod im Juni als Chef der Forza Italia mitregierte.

Galionsfigur von Europas «neuer Rechter»?

Auch der andere Koalitionspartner, die Lega von Verkehrsminister Matteo Salvini, bereitet bislang keine wesentlichen Probleme. Zudem ist die linke Opposition noch sehr mit sich selbst beschäftigt. Die meisten richten sich deshalb darauf ein, dass Meloni tatsächlich länger bleibt. Einige mutmassen gar, dass sie zur Galionsfigur einer «neuen Rechten» in Europa werden könnte. Solche Prognosen, auch das zeigt die Erfahrung, können sich als trügerisch erweisen.

Manche sind durchaus der Meinung, dass Italien ein heisser Herbst bevorstehen wird. Nicht wegen der Aussenpolitik. Hier verfolgt Meloni einen sehr pragmatischen Kurs. Die schrillen Töne aus dem Wahlkampf, als sie die EU für so gut wie alles Schlechte verantwortlich machte, sind verschwunden. Das hängt auch mit dem schlechten Zustand der Staatsfinanzen zusammen: Die knapp 200 Milliarden Euro, die das EU-Gründungsmitglied zur Bewältigung der Corona-Folgen versprochen bekam, braucht Meloni unbedingt.

Im Ukraine-Krieg steht sie verlässlich an der Seite der westlichen Partner gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Gegenüber Peking hat sich der Kurs geändert, auch das im Einklang mit den Partnern: Derzeit ist Meloni bemüht, aus Chinas Projekt einer «Neuen Seidenstrasse» auszusteigen, wo Italien bislang als einzige grosse westliche Industrienation dabei ist.

Mit Wahlversprechen im Verzug

Dass die Stimmung kippen könnte, hängt mit anderen Themen zusammen – insbesondere Migration. Im Wahlkampf hatte Meloni versprochen, die «Invasion aus Afrika» zu beenden. Passiert ist das Gegenteil: Seit Anfang Januar kamen mehr als 130'000 Migrant*innen übers Mittelmeer nach Italien – doppelt so viele wie vor einem Jahr. Auf der kleinen Insel Lampedusa waren es an einem einzigen Septembertag mehr als 5000. Zudem gibt es Streit mit den EU-Partnern, auch mit Deutschland.

Die Zeitung «La Repubblica» titelte am Sonntag «Das schwarze Jahr». Mit der Migrationspolitik sei Meloni auf ganzer Linie gescheitert. Die Regierungschefin selbst gab am Samstagabend im Fernsehsender «RAI» zu: «Die Ergebnisse sind nicht die, die wir erhofft haben.» Nun hat sie den Ton wieder verschärft. Die mögliche Abschiebehaft gegen Migranten wurde aufs zulässige EU-Maximum von 18 Monaten verlängert. Zudem sollen weitere Abschiebezentren gebaut werden. Vor den Vereinten Nationen forderte sie, Menschenhändlern den «globalen Krieg» zu erklären.

Aber auch mit anderen Wahlversprechen ist Meloni im Verzug. Italiens Wirtschaft ist im zweiten Quartal geschrumpft. Hinzu kommt die Inflation. Immer noch gibt es keinen Mindestlohn. Kritik handelte sie sich ein, weil 170'000 Empfänger von «Bürgergeld» per Handy-Nachricht informiert wurden, dass die Sozialhilfe gestrichen werde. Auch das sehr traditionelle Familienbild der Fratelli d'Italia gefällt vielen nicht. Meloni selbst lebt übrigens ohne Trauschein mit dem TV-Journalisten Andrea Giambruno zusammen.