Kollaps im Libanon Ein Land verhungert: «Die Menschen sterben in wenigen Monaten»

tafi/DPA

3.7.2020

«Der Libanon ist am Ende», sagen die Frauen auf den Strassen Beiruts: Im Land gibt es immer weniger Nahrungsmittel, und die Preise steigen unaufhörlich.
«Der Libanon ist am Ende», sagen die Frauen auf den Strassen Beiruts: Im Land gibt es immer weniger Nahrungsmittel, und die Preise steigen unaufhörlich.
Keystone/AP/Hassan Ammar

Die Menschen im Libanon sind verzweifelt: Die Regierung gilt als korrupt, die Währung ist im freien Fall, Lebensmittel werden knapp und unerschwinglich. Dem Land droht eine Hungersnot mit unzähligen Toten.

Das libanesische Pfund stand am Freitag im Vergleich zum Dollar auf einem der tiefsten Stände aller Zeiten. Ein Dollar kostete auf dem Schwarzmarkt knapp unter 10'000 libanesische Pfund: Die Währung war über Jahre fest an den Dollar gebunden. Ein Dollar kostete etwa 1'500 Pfund. Nun hat sie innerhalb weniger Monate mehr als 80 Prozent ihres Wertes verloren. Zeitgleich galoppiert die Inflation.

Beschleunigt durch die Corona-Pandemie schnellt die Arbeitslosigkeit in die Höhe, der Wert der Löhne und Gehälter sinkt und die Preise klettern schnell. Wegen der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise stehen die Einwohner des Libanons derzeit immer häufiger vor leeren Supermarktregalen oder gleich ganz geschlossenen Geschäften. Dem kleinen Land nördlich von Israel droht der Hungerkollaps. Betroffen davon sind auch rund 1,5 Millionen Geflüchtete, die der Libanon aufgenommen hat. Das sind, pro Kopf der eigenen Bevölkerung, weltweit die meisten.



Aber es sind nicht nur die Geflüchteten, die sich Sorgen machen, ihre Familien ernähren zu können, berichtet die britische Tageszeitung «The Telegraph». «Bis zum Ende des Jahres werden 75 Prozent der Bevölkerung auf kostenlos verteilte Essensrationen angewiesen sein», malt Dr. Martin Keulertz ein düsteres Bild. Der Assistenzprofessor im Programm für Ernährungssicherheit an der American University of Beirut befürchtet, dass der Libanon in den kommenden Monaten ein sehr ernstes Szenario erleben wird, «in dem Menschen hungern und an Hunger und den Folgen des Hungers sterben werden.»

«Der Libanon ist am Ende»

Im schlimmsten Fall drohe eine Wiederholung der Hungersnot von 1915–18. Damals verlor das Land die Hälfte der Bevölkerung. Die Aussicht auf eine Hungersnot im Libanon wecke zudem auch erhöhte Ängste vor einer zweiten Corona-Welle, da Menschen mit geschwächtem Immunsystem mit höherer Wahrscheinlichkeit sterben.

«Der Libanon ist am Ende», klagt eine Frau, die sich Rana nennt, in einem Supermarkt in der Hauptstadt Beirut gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. Sie zeigt sich sichtlich geschockt über die stark gestiegenen Preise. «Wir können so nicht weitermachen. Der Libanon steuert direkt auf Hunger zu.» Eine andere Frau stöhnte, sie könne kaum noch die notwendigen Güter für ihre Kinder kaufen: «Wenn du in diesen Tagen einen Supermarkt betrittst, dann heulst du entweder oder du rennst schnell wieder raus.»



Manche Läden bleiben gleich ganz geschlossen. Auf Schildern steht: «Wir entschuldigen uns, aber wir können ihnen keine guten Preise mehr bieten.» Vor Bäckereien bilden sich lange Schlange von Brotkäufern. Im Mai lag die Inflation im Jahresvergleich bei rund 56 Prozent, die Preise für Lebensmittel kletterten sogar um mehr als 80 Prozent. «The Telegraph» verweist in dem Zusammenhang auf einen UN-Bericht, demzufolge Ende April mehr als die Hälfte der Bevölkerung Mühe hatte, die grundlegendsten Nahrungsmittel auf den Tisch zu bringen.  

Abhängig von Importen

Ein Grossteil der Waren in den Supermärkten muss aus dem Ausland importiert werden. Den Händlern fehlen jedoch die Devisen, um die Regale ausreichend zu füllen. Auch die Preise für einheimische Waren steigen, weil der ebenfalls importierte Treibstoff immer teurer wird. Viele Libanesen horten derzeit Kerzen, weil sie ein Ende der Treibstoffvorräte befürchten.

Laut Martin Keulertz benötigt der Libanon rund 500 Millionen Dollar pro Jahr für Lebensmittelimporte, zumal nur 13 Prozent seines Landes landwirtschaftlich nutzbar sind. «Man kann sich leicht ausrechnen, dass der Libanon nur etwa 130'000 Menschen pro Jahr selbst ernähren kann.»



In der Nahrungsmittelkrise müsse das Ausland dringend intervenieren. Gefordert sei insbesondere Europa: «Es ist viel billiger, den Libanon zu retten, als ein Land, das Europa mit der Aufnahme von Flüchtlingen einen Dienst erwiesen hat, zusammenbrechen zu lassen», mahnt der AUB-Professor.

Zähe Verhandlungen mit dem IWF

Die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise ist die schwerste, die der Libanon seit Ende des Bürgerkriegs 1990 durchmacht. Im März konnte die Regierung erstmals Anleihen nicht bedienen. Der Libanon gehört weltweit zu den am stärksten verschuldeten Staaten.

Die Regierung verhandelt derzeit mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über ein Rettungsprogramm. Die Gespräche kommen nur schleppend voran. Unter anderem konnte Libanons Regierung bisher keine einheitlichen Zahlen zur Höhe der Verschuldung vorlegen. Kritiker werfen ihr vor, sie zeige sich einmal mehr reformunfähig.

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