Aufstände im Iran «Jugendliche mit Waffen bereiten sich auf eine Eskalation vor»

Von Andreas Fischer

10.2.2023

Seit dem Tod von Mahsa Amini im September 2022 kommt es im Iran immer wieder zu massiven Protesten. Zwar sind diese kürzlich etwas abgeebbt, aber die Aktivistin Neda Amani erwartet, dass sie schon bald wieder aufflammen – heftiger als zuvor.
Seit dem Tod von Mahsa Amini im September 2022 kommt es im Iran immer wieder zu massiven Protesten. Zwar sind diese kürzlich etwas abgeebbt, aber die Aktivistin Neda Amani erwartet, dass sie schon bald wieder aufflammen – heftiger als zuvor.
Uncredited/AP/dpa

Die Menschen im Iran haben nichts zu essen, keine Zukunft, nichts zu verlieren. Die Schweiz-Iranerin Neda Amani sieht darin Anzeichen, dass die Aufstände im Iran schon bald mit neuer Heftigkeit eskalieren.

Von Andreas Fischer

10.2.2023

«Das Regime in Tehran steht auf wackligen Füssen», sagt Menschenrechtsaktivistin Neda Amani angesichts des bevorstehenden Jahrestages der iranischen Revolution von 1979. Eine aus diesem Anlass für den 12. Februar in Paris geplante Kundgebung hat für Amani eine besondere Bedeutung: «Dort werden sich Iraner und Anhänger der grössten Opposition, der NWRI, versammeln, um Solidarität mit dem Streben des iranischen Volkes nach einem freien und demokratischen Iran zu zeigen.»

Ihnen gehe es darum, eine Linie gegen jede Art von Diktaturen zu ziehen: «Sei es der Schah, also die vorherige Diktatur, oder seien es die Mullahs mit ihrer aktuellen Diktatur.» Seit September 2022 kommt in fast allen iranischen Städten zu Protesten gegen das Regime der Mullahs.

Historikerin Amani, die dem Verein «Iranian Youth Association in Switzerland» vorsteht, sieht in den derzeitigen Aufständen gewisse Parallelen zur Revolution von 1979: «Die Iraner möchten nicht mehr zurück in der Geschichte, sie möchten nach vorne gehen». Im Interview erklärt sie, warum die aktuellen Proteste nach einer Phase der relativen Ruhe wieder Fahrt aufnehmen und warum sie zuversichtlich ist, dass sie zum Sturz der Mullahs führen.

Zur Person
zVg

Neda Amani ist Schweiz-Iranerin und stammt aus einer iranischen Widerstandsfamilie. Die Historikerin dokumentiert Menschenrechtsverstösse, hält Referate – auch vor dem UNO-Menschenrechtsrat in Genf – und tauscht sich regelmässig mit anderen Exil-Iranern aus.

Frau Amani, was können Demonstrationen im Westen für die Menschen im Iran bewirken?

Internationaler Druck kann endlich helfen, das System im Iran zum Einsturz bringen. Deshalb fordern Exil-Iraner und Exil-Iranerinnen, dass jegliche Verhandlungen mit dem Iran beendet werden und dass die Revolutionsgarden auf die Terrorliste gesetzt werden. Es geht im Kern um wirtschaftliche Sanktionsforderungen an den Westen, weil das Regime der Mullahs dann vollends kollabieren würde und die Iraner selbst die Kontrolle über ihr Land übernehmen könnten.

Aufstände und Proteste gab es im Iran in den vergangenen 15 Jahren immer wieder, und nichts hat sich geändert. Warum sollte die Revolution dieses Mal erfolgreich sein?

Ich beobachte mit einer NGO bei der UNO seit Jahren die Proteste. Die Menschen waren in den vergangenen Jahren vor allem wegen wirtschaftlicher Probleme auf der Strasse, wegen allgemeiner Teuerung oder weil sich der Benzinpreis verdreifacht hatte. 2009 haben sie gegen Wahlbetrug protestiert.

Doch diesmal ist es anders: Es geht nicht mehr um steigende Preise oder um die Rente oder um Wasserknappheit. Der Auslöser ist ein soziales Problem, nämlich die Ermordung einer jungen Frau. Dabei war Mahsa Amini bei weitem nicht die erste junge Frau, die im Iran ermordet wurde: Das Regime richtet jeden Monat zwischen 60 und 70 Menschen hin, davon sechs bis sieben Frauen.

Jetzt aber dulden die Menschen diese brutale Unterdrückung nicht mehr, und zwar landesweit in allen 31 Provinzen, was in den vergangenen Jahren auch nicht gegeben war. Und: Die Proteste haben alle sozialen Gruppen erfasst, alle Altersklassen beteiligen sich, arme Leute genauso wie wohlhabendere. Das hat es in diesem Ausmass noch nie gegeben.

Im Moment hört man relativ wenig: Wie ist die Lage im Iran aktuell?

Momentan finden immer noch Proteste statt, wenn auch nicht in derselben Intensität wie am Anfang. Das ist eine Art Ruhe vor dem Sturm: Dem Iran steht eine neue radikalere Protestphase bevor, zu der an diesem Wochenende aufgerufen werden soll.

Wir sind durch unser NGOs in stetigem Kontakt mit den Menschen im Iran und der Opposition (NWRI), bekommen zurzeit unter anderem Videos von Jugendlichen, die Waffen in den Händen haben und die sich vorbereiten auf eine Eskalation: Diese Dynamik wird im Moment allerdings noch weitgehend unterschätzt.

Die Menschen haben nichts mehr zu verlieren und das wird für die Mullahs zunehmend ein Problem: Die Entschlossenheit, diese Radikalität, diese Wut, dieser Frust – das hat sich in kurzer Zeit so sehr aufgestaut, dass die Lage im Iran trotz der relativen Ruhe zuletzt wie eine tickende Zeitbombe ist. Wenn sie explodiert, dann nützen dem Regime auch die Revolutionsgarden nichts mehr.

Das Regime behauptet, «alles sei unter Kontrolle».

Mitnichten. Die Menschen sind immer noch auf den Strassen: Jedes kleine gesellschaftliche und soziale Problem wird zurzeit zu einem grossen politischen Problem. Das zeigt, dass es kein Zurück mehr geben kann und dass die Proteste anhalten werden – und es schliesslich zum Sturz der Regierung kommen wird.

Das müssen Sie bitte erklären.

Vor einigen Tagen gab es zum Beispiel in Khoy, einer Stadt in der Region West-Aserbaidschan im Norden Irans, ein Erdbeben. Die Regierung hat keine Hilfe geschickt. Also sind die Menschen auf die Strasse gegangen: Sie haben nicht für Hilfslieferungen demontiert, sondern radikal den Sturz des Regimes gefordert: Aus einem sozialen Misstand wurde sofort ein politisches Problem.

Ein anderes Beispiel ist die Stadt Zahedan, in der im Herbst bei Protesten mehr als 100 Menschen ermordet wurden: Dort gibt es jeden Freitag nach dem Freitagsgebet Demonstrationen mit Tausenden Teilnehmenden, die nicht nur den Sturz Khameneis fordern, sondern mit dem Slogan: «Tod dem Unterdrücker, sei es der Shah oder Führer» auch das Ende jeglicher Unterdrückung. Das ist übrigens die gleiche Forderung wie bei der Revolution von 1979: Die Menschen wollen Demokratie und Freiheit.

Zurzeit gibt es eine Pattsituation im Iran: Die Mullahs wollen keinerlei Zugeständnisse machen, die Protestbewegung scheint an Momentum verloren zu haben. Ist das Patt aufzulösen?

Wie bei jeder Revolution gibt es Höhen und Tiefen. Aber wie erwähnt: Vor allem die Jugend bereitet sich gerade auf eine radikalere Phase des Protests vor. Die Menschen wissen: Sie haben nichts mehr zu verlieren. Es gibt gute Gründe, warum sie erfolgreich sein werden.

Welche Gründe sind das?

Der erste Faktor ist die schlechte wirtschaftliche Lage der iranischen Bevölkerung. 80 Prozent der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze, das Regime selbst spricht von 43 Prozent in absoluter Armut. Es gibt viele Menschen, die kein Brot, kein Wasser, kein Obdach haben. Die Energiekrise hat die Lage zusätzlich verschärft.

Es sieht nicht danach aus, dass sich die wirtschaftliche Lage in Zukunft verbessern wird angesichts der enormen Korruption und der unmenschlichen Verteilungspolitik des Regimes bei den Ressourcen, die vornehmlich für die Revolutionsgarden und damit für inländische Repression bereitgestellt werden. Oder für Nuklear- und Raketenprogramme. Oder für die Verbreitung des Terrorismus in der Region und im Ausland.

Das Regime hat gezeigt, dass es bei keiner seiner unpopulären Massnahmen nachzugeben bereit ist, eher im Gegenteil. Deswegen münden auch kleinere soziale oder gesellschaftliche Probleme sofort in extremen Protesten und Ausschreitungen.

Kommt hinzu, dass wir nicht mehr in den 1980er-Jahren leben, als die Menschen nicht mitbekamen, warum die Regierung eines durch Öl- und Gasexporte eigentlich wohlhabenden Landes die eigene Bevölkerung darben lässt. Heute wissen die Leute, dass der Iran in Ländern wie dem Libanon, dem Jemen, in Syrien oder Irak den Terror finanziert.

Die Führung des Irans bemüht sich, nach aussen ein Bild der Stärke abzugeben.

Aber sie ist zerstritten, und das ist der zweite Faktor, der das Regime schwächt. Nach den November-Ausschreitungen von 2019 mit 1500 toten Jugendlichen auf den Strassen wurden die Schlüsselpositionen des Staates mit radikalen Hardlinern besetzt, um künftige Demonstrationen von vornherein zu unterbinden. Aus diesem Grund hat man auch Ebrahim Raisi zum Präsidenten wählen lassen: einen Mann, der 1988 für die Massenhinrichtung politischer Gefangener mitverantwortlich war.

Mit dem radikalen Kurs waren und sind in der Führungsschicht des Landes allerdings nicht alle einverstanden, sondern eher besorgt über die wütenden Reaktionen des Regimes, die zu mehr Protesten führen und damit den Sturz des Regimes herbeiführen könnten. Deswegen ist es zu vielen Streitigkeiten gekommen: Der engere Kreis des Regimes ist geschwächt.

Die wohlhabende, einflussreiche Elite des Irans hat sich seit Beginn der Proteste nicht gegen die Aufständischen gestellt, sondern bisweilen sogar bewusst geschwiegen – und sich damit von Khamenei distanziert: aus Angst vor zukünftigen Folgen nach dem möglichen Sturz des Regimes.

Wie schlagkräftig ist die Opposition wirklich?

Es ist naiv zu denken, dass in einem Land, in dem 43 Jahre lang Folter, Unterdrückung und Hinrichtungen den Alltag prägten, keine Untergrundbewegung, kein Widerstand existiert. Es gibt so viele politische Gefangene, es wurden so viele Menschen hingerichtet: Sie haben und hatten alle Familienangehörige, Freunde …

Die Opposition, also die MEK, das Hauptelement im Nationalen Widerstandsrat der iranischen Koalition, hat über die Jahre ein Netzwerk im In- und Ausland aufgebaut. Damit sind wir beim dritten und vielleicht wichtigsten Faktor für den Erfolg: Die Proteste sind, anders als oft behauptet, keineswegs nur spontane Aktionen von Jugendlichen. Wobei ich ihren Einfluss nicht in Abrede stelle. Sie führen als Widerstandseinheiten die Aufstände an vorderster Front.

Wie muss man sich das vorstellen?

Wir bekommen immer wieder Videos, die zeigen, wie Jugendliche Foltereinrichtungen angreifen oder Molotow-Cocktails auf Einrichtungen des Regimes werfen, wie sie Statuen stürzen: Mit solchen radikalen Aktionen wollen sie der Gesellschaft die Angst vor dem Regime nehmen. Sie zeigen den Menschen: Ihr seid nicht allein, wenn ihr auf die Strasse geht.

Muss sich der Iran auf einen Bürgerkrieg einstellen?

Von einem Bürgerkrieg spricht man, wenn es zwischen Teilen eines Volkes zum Krieg kommt. Das ist beim Iran nicht der Fall. Die iranische Bevölkerung, die aus vielen verschiedenen Ethnien und Religionen besteht, spricht mit einer Stimme bei ihren Forderung nach einem Ende jeglicher Unterdrückung und für eine säkulare, demokratische Republik.

LÄSSER zum Thema Iran mit Awin Tavakoli und Neda Amani

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Trotz brutalster Gewalt vom Mullah-Regime: Die massiven Proteste im Iran nehmen nicht ab. Bei «LÄSSER – die Talkshow» erzählen Awin Tavakoli & Neda Amani über ihren Kampf für die Freiheit Irans.

25.11.2022