Fall Nawalny Der Ruf nach Härte gegenüber Russland wird lauter

uri, mit Material von dpa

10.9.2020

Nach Alexej Nawalnys Vergiftung ringt nicht nur Deutschland, sondern die ganze EU um die richtige Antwort. Während Kreml-Kritiker ein Umdenken fordern, wiegeln die Nord-Stream-2-Befürworter ab. Was macht Merkel?

Nach der Vergiftung des russischen Regierungskritikers Alexej Nawalny am 20. August geht die Suche nach den Hintermännern des Anschlags weiter. Und auch der politische Schlagabtausch um die Frage, wie der Westen reagieren soll. Schliesslich werden die Drahtzieher nach ähnlich gelagerten Fällen bei russischen Geheimdiensten oder sogar im Kreml selbst vermutet.

Zugleich werden die Rufe nach einer robusteren Gangart gegenüber Russland nicht nur zahlreicher, sondern auch lauter. Auch der renommierte Osteuropaexperte Klaus Segbers fordert in einer sachlichen Analyse, man müsse Russland «klar und hart begegnen» – und hat mit dieser Meinung womöglich inzwischen auch die deutsche Bundeskanzlerin an seiner Seite.

Das russische Verhalten nach der Vergiftung Alexej Nawalnys ist der jüngste Punkt in einer Reihe diplomatischer Verwerfungen, bei denen Moskau vorgeworfen wird, internationales Recht zu brechen – wie bei der Annexion der Krim, beim Abschuss von Flug MH17, bei der Einmischung in der Ostukraine, Kriegsverbrechen in Syrien und den Anschlägen auf andere oppositionelle Politiker.

Ein Test für Europa

Stets reagiert Moskau auf derlei Anschuldigungen nach dem gleichen Muster: Es werden Verdächtigungen gestreut, Angriffe und Vorwürfe gegen die Kritiker vorgebracht und Ablenkungsmanöver lanciert. Zugleich betont Russland zwar lautstark den Willen zur Zusammenarbeit – lässt dann aber keinerlei Taten folgen. 



Und auch das bleibt stets gleich: Die liberalen westlichen Demokratien ringen jedes Mal erneut um eine adäquate Antwort und den richtigen Umgang mit dem Land, das wieder als Weltmacht auftritt. Auf dem diplomatischen Parkett wird es danach oft geschäftig und hektisch, doch die Reaktionen sind oft vorhersehbar.

So auch nun: Deutschland und Grossbritannien bestellten bereits den jeweiligen russischen Botschafter ein. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, forderte ebenso wie die G7-Staaten von Moskau eine unabhängige Untersuchung im Fall Nawalny und auch die NATO erklärte, Russland müsse eine «vollumfängliche, transparente, strafrechtliche Ermittlung» zu Nawalnys Vergiftung anstrengen.

Als einen Test für Europa bezeichnet den Giftanschlag der französische Europa-Staatssekretär Clément Beaune. Nun hätten die Europäer über Massnahmen nachzudenken. Eine solche Massnahme erkennt etwa Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki in der Abkehr von der in seinem Land ohnehin ungeliebten Pipeline Nord Stream 2.

Das etwa 7,4 Milliarden Euro teure Projekt des russischen Unternehmens Gazprom mit deutschen und europäischen Partnern soll noch bis Ende des Jahres durch die Ostsee gebaut werden und künftig Erdgas direkt von Russland nach Deutschland transportieren.

Merkel will gemeinsame Reaktion

Auch verschiedene Politiker der deutschen Regierungsparteien wie Aussenminister Maas, Gesundheitsminister Spahn und der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen, brachten einen Stopp des Pipeline-Projekts bereits ins Gespräch.

Der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier vertritt hingegen eine andere Denkschule und bezweifelte in einer Talkshow angesichts des «feigen Mordanschlags» die Wirksamkeit von Sanktionen. Er kenne keinen Fall, in dem ein Land wie Russland so zu einer Verhaltensänderung bewegt worden sei, sagte der CDU-Politiker in der ARD-Sendung «hart aber fair».

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den Stopp des umstrittenen Projekts bislang offen gelassen. Sie habe sich noch kein abschliessendes Urteil gebildet, erklärte sie am Dienstag nach Angaben mehrerer Sitzungsteilnehmer in der ersten Sitzung der CDU/CSU-Fraktion nach der Sommerpause in Berlin. Merkel betonte demnach aber auch, es sei eine europäische Reaktion auf den Fall Nawalny gefragt. 

Fragen, die nur Moskau beantworten kann 

Merkel und ihr Aussenministerium scheinen indes grundsätzlich ernüchtert, was Aufklärung durch Russland angeht. Die Bundeskanzlerin hatte sich bereits Anfang September ungewöhnlich scharf geäussert und gesagt: «Alexej Nawalny wurde Opfer eines Angriffs mit einem chemischen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe.» Die Welt warte nun auf Antworten, die nur die russische Regierung beantworten könne. Es stellten sich nun sehr schwerwiegende Fragen, die nur die russische Regierung beantworten könne.

Aus deutschen Regierungskreisen hiess es, die Russland-Politik müsse auf den Prüfstand – bei aller Rücksichtnahme auf die wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen. «Mit der Ausweisung des einen oder anderen Diplomaten, wird es in Zukunft nicht getan sein», zitiert der «Spiegel» einen hohen Regierungsbeamten.

Diese Sicht deckt sich auch mit jener des Osteuropa-Experten Klaus Segbers, dessen bei Zeit-Online publizierte Analyse im politischen Berlin mit Sicherheit gründlich gelesen wurde. Segbers stellt in seinem Gastbeitrag die Frage, wie liberale Gesellschaften mit den offenbaren Regelverstössen Russland umgehen sollten und plädiert dafür, dass man, wie mit «anderen autoritären Regimen» auch, Russland «klar und hart begegnen» müsse.

Kernirrtümer über Russland

Dafür gelte es zunächst, mit «einer Reihe populärer und bequemer Kernirrtümer» über Russland aufzuräumen. Zu diesen Fehleinschätzungen gehörten unter anderem, dass Russland politisch lediglich auf den westlichen Hochmut und die Missachtung nach dem Kollaps der UdSSR reagiere, die derzeitige Situation jener des Kalten Krieges ähnle und entsprechend gemanagt werden müsse. Ebenso der Glaube, dass man mit autoritären Machthabern reden müsse, um Wandel zu ermöglichen.

Vor allem beim letzten Punkt stimmen politisch massgebliche Entscheidungsträger inzwischen immer öfter zu. Als wollte man Segbers Argumentation bestätigen, prangerte das russische Aussenministerium gestern nämlich eine «Desinformationskampagne» an, die lediglich als Vorwand für neue Sanktionen gegen Moskau genutzt werden solle. «Die Initiatoren sorgen sich nicht um die Gesundheit Nawalnys (...), sondern wollen Sanktionen verhängen», hiess es in einer Erklärung des Aussenministeriums.

Segbers meint, miteinander zu reden mache hingegen nur dann Sinn, «wenn es minimale Standards des Verhaltens gibt, die beachtet werden, und wenn es ein wenigstens teilweise überlappendes Interesse daran gibt, gemeinsam Lösungen zu erreichen».

Neujustierung der Verhältnisse 

Seien die Präferenzen der anderen Seite indes gänzlich anders gelagert, «zum Beispiel Lösungsvermeidung durch stetes Palavern, die Vernebelung von Sachverhalten, die Erleichterung des eigenen politischen Überlebens oder die Verwischung eigener Regelverletzungen durch Manipulationen von sozialen und anderen Medien», dann müsse man keine «solche defekte Kommunikation betreiben».

Stattdessen, so der Experte, müssten die Beziehungen zu autoritären Regimen «neu justiert werden». Und zwar «ohne historische Romantik und Selbsttäuschungen, mit Bedacht, Klarheit, Kargheit mit Gesprächen und der erforderlichen Härte».

Laut Segbers könne man bei der Gelegenheit das Projekt Nord Stream 2 gleich mit abräumen. Und zwar nicht, «weil US-amerikanische Senatoren und Regierungsstellen in Washington dagegen agitieren und Sanktionen verhängen, sondern weil es nicht im deutschen und europäischen Interesse liegt». Der Verzicht auf die Pipeline hätte nach seiner Meinung «vor zwei Jahren besser ausgesehen als jetzt, aber es ist noch nicht zu spät».

Fraglich ist, ob sich die deutsche Kanzlerin zu einem solchen Schritt wird durchringen können, der auch deutschen Unternehmen schaden würde. Als ziemlich sicher darf aber gelten, dass nicht nur Berlin die Lust auf weiteres «Palavern» mit Moskau vergangen ist. Man darf gespannt sein, wie die Russlandsanktionen  der EU aussehen werden.

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