Auch in der SchweizKinderarmut steigt in Zeiten des Coronavirus
SDA
22.7.2020 - 06:53
Die Coronakrise droht das Problem der Kinderarmut weiter zu verschärfen. Eltern benachteiligter Kinder arbeiten laut einer Studie häufig in Teilzeitarbeit oder als Minijobber. Sie sind von Stellenabbau und Lohneinbussen überdurchschnittlich stark betroffen.
Wegen der Auswirkungen der Coronakrise bestehe die Gefahr, dass viele arme Kinder durchs Raster fielen, heisst es in einer am Mittwoch veröffentlichten Analyse der Bertelsmann-Stiftung.
Das liege auch daran, dass zahlreiche ausserhäusliche Unterstützungsangebote staatlicher oder zivilgesellschaftlicher Natur in der Zeit des Lockdowns zumindest zeitweise eingestellt worden seien, erklärte der Chef der Bertelsmann-Stiftung, Jörg Dräger. Die Stiftung beruft sich unter anderem auf Auswertungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
Problemverschärfend wirkt der in der Zeit des Lockdown eingeführte Unterricht zuhause (Home-Schooling). Kinder aus armen Verhältnissen verfügten oft nicht über die dafür nötige technische Ausstattung und hätten vielfach auch keine Rückzugsräume für ungestörtes Lernen. So hätten 24 Prozent der Kinder in Haushalten, die Grundsicherung beziehen, keinen Zugang zu einem internetfähigen PC.
Die meisten von Armut betroffenen Kinder hätten kaum Aussicht auf Besserung ihrer Situation. Derzeit seien 21,3 Prozent oder 2,8 Millionen der Kinder und Jugendlichen in Deutschland von Armut betroffen, heisst es in der Analyse.
Für etwa zwei Drittel von ihnen gelte dies dauerhaft, also für mindestens fünf Jahre durchgehend oder wiederkehrend. Besonders stark betroffen seien Haushalte von Alleinerziehenden sowie Haushalte mit drei oder mehr Kindern.
In der Schweiz sind laut dem Hilfswerk Caritas 144'000 Kinder von Armut betroffen. Noch vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie war die Armutsquote bei Kindern stark von 6,9 auf 9,6 Prozent gestiegen. Die Entwicklung der letzten Jahre zeige, dass die Armut trotz guter Wirtschaftslage nicht einfach verschwinde.
In der Schweiz bestehe ein strukturelles Armutsproblem, hielt Caritas bereits zu Jahresbeginn fest. Die Armut, besonders auch jene der Kinder, bleibe die grösste sozialpolitische Herausforderung und verlange ein entschlossenes Handeln.
Mit der Unterzeichnung der Agenda 2030 habe sich der Bundesrat verpflichtet, Armut in der Schweiz bis 2030 mindestens um die Hälfte zu reduzieren. Um dieses Ziel zu erreichen, brauche es dringend eine wirksame Armutsbekämpfung und eine gemeinsame Strategie von Bund, Kantonen und Gemeinden.
Ungelöstes strukturelles Problem
«Kinderarmut bleibt ein ungelöstes strukturelles Problem mit erheblichen Folgen für das Aufwachsen, das Wohlbefinden, die Bildung und die Zukunftschancen der Kinder», erklärten die Experten der Bertelsmann-Stiftung. Dräger kritisierte insgesamt zu geringe Anstrengungen der Politik, um Kinderarmut zu verringern.
«Die Politik tut zu wenig, um Kindern Armut zu ersparen», erklärte der Stiftungs-Chef. Er forderte die Regierungen von Bund und Ländern deswegen zum Handeln auf: «Die Vermeidung von Kinderarmut muss gerade in der Coronakrise politische Priorität bekommen.»
Grundsicherung für Kinder
Dräger sprach sich dabei für neue sozial- und familienpolitische Konzepte aus. Er verwies auf Vorschläge für ein Teilhabegeld oder eine Kindergrundsicherung.
Zudem müssten Strukturen für eine konsequente Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ausgebaut werden. Besonders in der Coronakrise habe sich auch gezeigt, dass die Wünsche und Bedarfe von Kindern und Jugendlichen von der Politik nicht angemessen erfasst würden.
Mehrere Faktoren analysiert
Bei der Analyse berücksichtigten die Forscher mehrere Faktoren. Neben der Zahl der Empfänger von Grundsicherung wurde für die Analyse im Rahmen einer kombinierten Armutsmessung auch die Armutsgefährdungsquote einbezogen, die den Anteil der Haushalte angibt, deren Einkommen (einschliesslich Sozialleistungen) 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung unterschreitet.
Unter den direkten Auswirkungen von Armut werden unter anderem das Fehlen eines Autos oder elektronischer Geräte im Haushalt, der Verzicht auf Urlaubsreisen sowie auf Aktivitäten wie Kino- oder Theaterbesuche genannt.