Nordsyrien-Offensive Dem brutalen Mann vom Bosporus werden Kriegsverbrechen angelastet

Von Philipp Dahm

21.10.2019

Der Obduktionsbericht einer kurdischen Politikerin, die bei der türkischen Syrien-Offensive ermordet wurde, lässt Schaudern – genau wie der Wunsch von Präsident Erdogan, Ankara zur Atommacht zu machen.

US-Präsident Donald Trump übernimmt den Jargon von Recep Tayyip Erdogan. Denn auch sein türkischer Amtskollege wolle, dass die Waffenruhe («oder Pause») in Nordsyrien halte. Es gebe «grosse Fortschritte» in der Region und «guten Willen» auf beiden Seiten.

Die USA hätten «das Öl gesichert» und die Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates hätten nun sogar zwei Aufpasser: Türken und Kurden. Als der US-Präsident das vor drei Tagen twitterte, bekam er sogar ein Feedback aus Ankara. Erdogan schreibt, er wolle bloss Terroristen bekämpfen – und der Region Frieden und Stabilität bringen.

Guter Wille, Frieden und Stabilität? Das tönt so anders als die Informationen aus dem Kriegsgebiet, die aus unabhängigen Quellen stammen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft Ankara Kriegsverbrechen vor: Generalsekretär Kumi Naidoo sagte, das türkische Militär sei «ausgesprochen kaltblütig», wenn es um das Leben von Zivilisten gehe, und habe «unerlaubte, tödliche Angriffe in Wohngebieten» durchgeführt.

Gemeint ist Artilleriebeschuss mit Phosphormunition, deren Einsatz durch die Genfer Konvention verboten ist. Der türkische Verteidigungsminister hatte entsprechende Vorwürfe der Kurden jedoch zurückgewiesen – und der Gegenseite vorgeworfen, selbst mit solcher Munition geschossen zu haben, um Ankara schlecht dastehen zu lassen.

Outsourcing von Kriegsverbrechen 

Amnesty wiederum wirft der Türkei vor, ihre Kriegsverbrechen kurzerhand «auszulagern»: Sie lasse der Syrischen Nationalen Armee, die mit dem Militär Hand in Hand arbeitet, einfach freie Hand. Rund 30 Splittergruppen sind in dieser Armee vereint – darunter sind islamistische Bewegungen wie die von Saudi-Arabien unterstützte Armee des Iaslam (Dschaisch al-Islam), die Sultan Murad Brigade und Ahrar al-Sharqiya, die «Männer des Ostens».

Syrien-Gespräche in Genf anberaumt

Bundesrat Ignazio Cassis hat sich mit dem UNO-Sondergesandten für Syrien getroffen. Nun soll in Genf ein Verfassungsausschuss tagen. Dieser wird 150 syrische Delegierte umfassen, wie das Aussendepartement (EDA) am Montag mitteilte. Das Ende Oktober in Genf beratende Gremium hat das Mandat, einen Vorschlag für eine syrische Verfassungsreform auszuarbeiten. Cassis sicherte dem UNO-Sondergesandten Geir Pedersen die volle Unterstützung der Schweiz als Sitzstaat für diesen Schritt zu. Diese Unterstützung hatte er im September auch an einer Sitzung für Frieden in Syrien im Rahmen der UNO-Vollversammlung in New York deutlich gemacht. (sda)

Letztgenannte sollen auch für den Tod von Hevrin Khalaf verantwortlich sein. Der gepanzerte Wagen der Generalsekretärin der Zukunftspartei war am 12. Oktober in Nordsyrien gestoppt worden. Die 34-Jährige wurde aus dem Wagen gezerrt und was dann geschah, ist nun durch die Obduktion ihrer Leiche klargeworden: Die Politikerin wurde auf brutalste Weise ermordet. (Anmerkung der Redaktion: Sensible Menschen sollten den kommenden Absatz überspringen)

Erst wurde ihr gemäss Bericht mit einem stumpfen Gegenstand zwei Beinknochen gebrochen, dann wurde sie an den Haaren weggeschleift, wobei sich die Kopfhaut gelöst hat. Gestorben sei sie dann durch einen Kopfschuss aus nächster Nähe: Dass noch mehrere Kugeln ihren Rücken durchsiebten, konnte das Opfer nicht mehr spüren.

Mit «gutem Willen» Köpfe rollen lassen

Laut Amnesty zeige Videomaterial, wie Khalaf nach dem Gemetzel von ihrem Mördern als «Schwein» beschimpft werde. «Sie konnten mir nicht einmal ihren Leichnam zeigen», klagte die Mutter des Opfers laut dem kanadischen Sender CBC. «Es gab keinen Teil, der nicht von Kugeln durchlöchert war.»

Antikriegsdemonstrationen in der Schweiz

Von wegen «guter Wille»: Die angeprangerten Grausamkeiten decken sich mit den martialischen Tönen, die der Präsident höchstpersönlich von sich gibt: Demnach hat Erdogan geschworen, die «Köpfe [militanter Kurden] zu zermalmen» – und eben jener Recep Tayyip Erdogan, dessen Schergen einen Hilfskonvoi an der Einfahrt nach Rais al-Ain hinderten, will nun auch noch, dass die Türkei Atommacht wird.

«Einige Staaten haben Atomraketen», soll Erdogan laut «New York Times» im September gesagt haben. Aber der Westen bestehe darauf, «dass wir sie nicht haben können. Das kann ich nicht akzeptieren.» Egal, was der Atomwaffensperrvertrag sagt. «Die Türken sagen schon seit Jahren, dass sie dem Beispiel des Iran folgen wollen», bestätigte John Hamre vom Washingtoner Center for Strategic and International Studies.

«Neue Gebiete wieder von Kurden besiedelt»

«Aber dieses Mal ist es anders, denn Erdogan hat gerade den Abzug der USA aus der Region erreicht.» So weit wie Teheran sei Ankara noch lange nicht, aber weiter als Saudi-Arabien: Es dürften noch Jahre vergehen, bis die türkische Forschung bereit für den Bau einer Atombombe sei, glauben Experten. Es sei denn, Ankara könne diese Waffe irgendwo kaufen oder gar amerikanischer Atomsprengköpfe habhaft werden, die auf dem Nato-Stützpunkt in Incirlik lagern.

Die Türken könnten es aber auch aus eigener Kraft schaffen, denkt Olli Heinonen, ein früherer Inspektor der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien. «Sie vergrössern ihre nukleare Expertise. Das ist Stoff mit hoher Qualität.»

Donald Trump ficht das nicht an. Für ihn ist die Welt in Ordnung, könnte man annehmen, wenn man einen Tweet von gestern liest. «Neue Gebiete werden wieder von Kurden besiedelt.» So kann man die ethnische Vertreibung aus dem Grenzgebiet natürlich auch nennen.

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