Wegen neuem Melderegister in SyrienNeue Melderegister bestätigen Massentode in Assads Gefängnissen
AP
6.8.2018
Von Tausenden Syrern fehlt seit Jahren jede Spur. In einigen Fällen haben die Familien nun traurige Gewissheit: Die oft noch sehr jungen Männer und Frauen, die für mehr Freiheit auf die Strassen gegangen waren, starben in den Folterkammern des Regimes.
Immer wieder hatte sich Jasser Chulani um Informationen über seine Brüder Abdelsatter und Madschd bemüht. Der Syrer wusste nur, dass die beiden nach ihrer Festnahme durch die Geheimpolizei im Jahr 2011 im berüchtigten Militärgefängnis Sajdnaja gelandet waren. Die Mutter durfte 2012 - nach Zahlung eines hohen Schmiergelds - dort einen ihrer Söhne für drei Minuten hinter einer Glasscheibe sehen. Trotz Berichten über brutale Menschenrechtsverbrechen in dem Gefängnis hatte die Familie die Hoffnung bis zuletzt nicht aufgegeben.
Seit der vergangenen Woche weiss Chulani nun aber, dass es keine Chance auf ein Wiedersehen mehr gibt. Aus einem aktualisierten Melderegister erfuhr er, dass Abdelsatter und Madschd schon seit 2013 tot sind. Zu den genauen Todesumständen werden keine Angaben gemacht. Doch Chulani macht sich keine Illusionen. Ehemalige Gefängniswärter und Insassen haben hinlänglich bezeugt, dass Folter in Sajdnaja an der Tagesordnung war.
Tod beiläufig bestätigt
Bisher verweigerte das syrische Regime jegliche Aussage zu den Vorwürfen. Nun plötzlich werde der Tod von unzähligen Menschen in den Gefängnissen in einem formalen Akt geradezu beiläufig bestätigt, kritisieren Aktivisten. Seit die Behörden vor einigen Monaten mit der Aktualisierung der Melderegister begonnen hätten, seien die Namen von Hunderten Personen, darunter auch einige der Anführer der Proteste im Jahr 2011, in den Listen aufgetaucht. Und es sei davon auszugehen, dass Hunderte oder gar Tausende weitere folgen würden.
In vier Auszügen der Register, die von der Nachrichtenagentur AP eingesehen werden konnten, wird ebenfalls lediglich der Tod der betroffenen Personen bestätigt. Menschenrechtler betonen aber, dass allein die hohe Gesamtzahl ein klarer Beleg für die Massenmorde in den Gefängnissen des Regimes von Präsident Baschar Assad sei. «Dies könnte die Beweise stützen, die wir schon haben», sagt Mohammed al-Abdullah von dem in Washington ansässigen Syrian Justice and Accountability Center, das Aussagen von Überlebenden zusammengetragen hat.
Regimetreuen Folterknechte müssen nichts fürchten
Nach der militärischen Rückeroberung der meisten Rebellengebiete dürften die regimetreuen Folterknechte zumindest in Syrien kaum rechtliche Konsequenzen zu befürchten haben. In den Friedensgesprächen unter UN-Vermittlung zählte das ungewisse Schicksal der politischen Gefangenen aber bisher zu den Knackpunkten. «Die Regierung versucht zu sagen: «Es gibt keine vermissten Personen. Sie sind gestorben - also lasst uns nach vorne blicken»», sagt Al-Abdullah. «Nach Vorstellung der syrischen Regierung ist das eine Lösung.»
Laut Aktivisten versuchte Assad ab 2011, sein Volk mit systematischer Folter zu terrorisieren. Wer an Demonstrationen teilgenommen hatte oder auch nur im Verdacht stand, mit dem Aufstand zu sympathisieren, konnte jederzeit festgenommen werden. Fotos, die von einem Überläufer aus Militärkrankenhäusern herausgeschmuggelt und 2014 veröffentlicht wurden, zeigten das Schicksal von mehr als 11 000 Gefangenen aus Haftanstalten im Umfeld von Damaskus. Ihre Leichen waren abgemagert sowie von Brandwunden, Prellungen und Schnittverletzungen übersät. Einige hatten ausgestochene Augen.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Die Organisation Human Rights Watch wertete die Fotos als Beleg für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Amnesty International erklärte nach Interviews mit früheren Insassen, Ärzten und Gefängnisaufsehern, dass allein inSajdnaja von 2011 bis 2015 vermutlich zwischen 5000 und 13 000 Menschen getötet worden seien.
Unter den Toten sind auch fast eintausend Bewohner der Stadt Daraja, aus der die Familie von Chulani stammt. Das geht aus den nun veröffentlichen Listen hervor, die zum Teil von örtlichen Aktivisten ausser Landes geschmuggelt wurden. Daraja liegt nur wenige Kilometer von Damaskus entfernt und zählte 2011 zu den Hochburgen der Protestbewegung. Als die Demonstrationen trotz der vielen Festnahmen nicht endeten, belagerten die Regierungstruppen die Stadt, schnitten sie von der Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln ab und bombardierten sie schliesslich aus der Luft.
Nach Angaben des Syrian Network for Human Rights sind insgesamt etwa 82 000 Menschen nach einer Festnahme durch Sicherheitskräfte des Regimes «verschwunden». Der Begriff bedeutet, dass die Familien der Betroffenen keine Informationen darüber haben, wo sich die Personen befinden und ob sie noch am Leben sind. Angesichts der indirekten Mitteilungen über aktualisierte Register kritisieren Angehörige und Menschenrechtler nun, dass die reine Information über den Tod der Gefangenen nicht ausreiche. Vielmehr fordern sie eine Aushändigung der Leichen, um mehr über die genauen Todesursachen herausfinden zu können.
«Plötzlich hast du das Gefühl, dass du nie wieder in der Lage sein wirst zu träumen.»
Madschd Chulani, geboren 1990, war nach Angaben des im Exil lebenden Gemeinderatmitglieds Schadi Matar einer der Organisatoren der ersten Proteste in Daraja. Festgenommen wurde er im August 2011. Sein älterer Bruder Abdelsatter, geboren 1980, war bereits drei Wochen zuvor in Gewahrsam genommen worden. Laut den neuen Melderegistern starben sie beide am 15. Januar 2013, am gleichen Tag wie auch fünf weitere Aktivisten aus Daraja - ein Muster, das aus Sicht von Al-Abdullah ein Hinweis für eine Gruppenhinrichtung ist.
Bisher habe er von der Hoffnung gelebt, dass seine Brüder eines Tages doch aus dem Gefängnis entlassen werden würden, sagt Jasser Chulani, der inzwischen als Flüchtling in der türkischen Stadt Gaziantep lebt, in einem Telefongespräch mit der AP. «Plötzlich hast du das Gefühl, dass du nie wieder in der Lage sein wirst zu träumen.»
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