Polen vor wichtigem Urteil Holocaust-Forschung in Gefahr

AP/toko

4.2.2021 - 00:00

Polnische Juden werden 1943 nach dem gescheiterten Aufstand von Soldaten der deutschen Waffen SS zur Deportation aus dem brennenden Warschauer Ghetto abgeführt.
Polnische Juden werden 1943 nach dem gescheiterten Aufstand von Soldaten der deutschen Waffen SS zur Deportation aus dem brennenden Warschauer Ghetto abgeführt.
KEYSTONE Str (Symbolbild)

Den Nationalpopulisten in Warschau ist die geschichtliche Untersuchung polnischer Kollaboration während der Nazi-Besatzung ein Dorn im Auge. Jetzt könnte ein Verleumdungsprozess über die Zukunft der unabhängigen Holocaust-Forschung in Polen entscheiden.

Holocaust-Historiker rund um die Welt blicken mit Sorge nach Polen. Dort wird am 9. Februar das Urteil in einem Verleumdungsprozess gegen zwei Geschichtsprofessoren erwartet, die sich intensiv mit der Beteiligung von Polen an der Ermordung von Juden im Zweiten Weltkrieg befasst haben. Wie dieses Verfahren ausgeht, könnte Experten zufolge darüber bestimmen, wie und ob in Polen in Zukunft noch unabhängig über den Holocaust geforscht werden wird.

Die Professoren, Barbara Engelking und Jan Grabowski, sowie historische Einrichtungen sehen in dem Verfahren einen Anschlag auf die freie Forschung, wie es etwa die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem formulierte. «Das Vorgehen gegen diese beiden international angesehenen Gelehrten ist nichts anderes als ein Versuch, das Rechtssystem zu nutzen, um die Holocaust-Forschung in Polen mundtot zu machen», sagt auch Mark Weitzman vom Simon-Wiesenthal-Zentrum in Los Angeles. Die in Paris ansässige Stiftung für das Gedenken an die Shoa spricht von einen «Hexenjagd» und einer «bösartigen Invasion in das Herzstück der Forschung».

Hinterbliebene fordert nach Buch Entschädigung

Im Mittelpunkt des Rechtsstreits steht ein zweibändiges Werk der beiden Historiker vom Polnischen Zentrum für Holocaust-Forschung in Warschau mit dem Titel «Dalej jest noc. Losy Żydów w wybranych powiatach okupowanej Polski» (Danach ist nur Nacht. Das Schicksal der Juden in ausgewählten Landkreisen des besetzten Polens). Darin heisst es unter anderem, dass Edward Malinowski, ein früherer Ortsvorsteher im ostpolnischen Dorf Malinowo, geholfen habe, eine jüdische Frau zu retten. Aber zugleich wird die Überlebende mit der Angabe zitiert, dass Malinowski am Tod von Dutzenden anderen Juden mitschuldig gewesen sei.



Die Nichte des Mannes, Filomena Leszczynska, sieht darin eine Verleumdung und hat die beiden Autoren verklagt. Sie fordert umgerechnet etwa 22'500 Euro Entschädigung und eine in Zeitungen zu veröffentlichende Entschuldigung. Hinter der Klägerin steht die Polnischen Liga gegen Diffamierung, die von der Regierung finanziell unterstützt wird.

Diese Organisation argumentiert, dass Engelking und Grabowski den «guten Namen» eines polnischen Helden «beschmutz» hätten, der Juden nichts zuleide getan habe. Dadurch sei auch die Würde und der Stolz aller Polen verletzt worden. Die Klage wurde auf Grundlage eines 2018 verabschiedeten Gesetzes eingereicht, das es unter Strafe stellt, dem polnischen Staat oder Volk fälschlicherweise eine Verantwortung oder Mitverantwortung für Verbrechen der Nazis zuzuschreiben. Das Gesetz hatte Polens Beziehungen zu Israel schwer belastet.

PiS will Nationalstolz fördern

Die nationalkonservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ist seit 2015 an der Macht und und versucht seitdem, Untersuchungen polnischer Kollaboration während der deutschen Besatzung zu unterbinden. Stattdessen verlegt sie sich fast ganz darauf, polnisches Heldentum und Leiden hervorzuheben. Das zielt darauf ab, Nationalstolz zu fördern, aber Kritiker werfen der Regierung vor, die Tatsache zu übertünchen, dass manche Polen bei  der Ermordung von Juden geholfen haben.

Nazi-Deutschland hatte Polen 1939 besetzt, einen Teil annektiert und den Rest direkt kontrolliert. Im Gegensatz zu anderen deutsch besetzen Ländern gab es in Polen keine Kollaborateur-Regierung: Die Warschauer Vorkriegsregierung und das Militär floh ins Exil, mit Ausnahme einer Widerstandsarmee im Untergrund, die die Nazis im Land bekämpfte. Aber einige Polen halfen den Deutschen dabei, Juden aufzuspüren und umzubringen, in vielen Fällen Menschen, die aus Ghettos geflüchtet waren und versuchten, sich in ländlichen Gegenden zu verstecken.

Weitzman vom Wiesenthal-Zentrum nennt «Danach ist nur Nacht» ein «akribisch recherchiertes und mit Quellen belegtes Buch...das detailliert Tausende Fälle von Komplizenschaft von Polen beim Mord an Juden während des Holocaust beschreibt».

Staat gegen Forschung?

Grabowski und Engelking selbst sagen, dass der gerichtliche Vorstoss  ein Versuch sei, sie persönlich zu diskreditieren und andere Forscher davon abzuhalten, die Wahrheit über die Vernichtung von Juden in Polen zu untersuchen. «Dies ist ein (Rechts)Fall des polnischen Staates gegen die Freiheit der Forschung», sagte Grabowski der Nachrichtenagentur AP. 

«Danach ist nur Nacht» bezeichnet er als «facettenreich, und es spricht genauso viel über polnische Tugenden (wie über Negatives). Es zeichnet ein wahres Bild.» Und: «Der Holocaust ist nicht da, um dem polnischen Ego und der geistig-seelischen Verfassung zu helfen. Er ist ein Drama, das den Tod von sechs Millionen Menschen beinhaltet – was die Nationalisten vergessen zu haben scheinen».

Der kanadischstämmige Grabowski, der auch an der Universität von Ottawa lehrt und dessen Vater ein Holocaust-Überlebender war, ist selbst wiederholt mit antisemitischen Belästigungen konfrontiert worden, sei es online oder bei Vorlesungen in Kanada, Frankreich und anderswo.



Pawel Jablonski, stellvertretender Aussenminister Polens, bezeichnet die Klage als eine Privatangelegenheit. Es stehe jedem Bürger zu, ein Gericht anzurufen, wenn er oder sie sich durch jemanden oder eine Einrichtung in ihren Rechten verletzt fühlten, sagte er der AP. «Die Regierung ist nicht in die Prozeduren involviert, es ist eine Privatsache, die vom Gericht entschieden wird.»

Aber andere widersprechen entschieden, so Zygmunt Stepinski, Direktor des Warschauer Museums für die Geschichte polnischer Juden (Polin). Er verweist darauf, dass eine Organisation, die stark mit öffentlichen Mitteln bezuschusst werde, in diesen Prozess involviert sei. Das könne leicht als eine Art von Zensur ausgelegt werden «und als ein Versuch, Gelehrte davon abzuschrecken, Ergebnisse ihrer Forschung zu veröffentlichen – aus Angst vor einer gerichtliche Klage und dem folgenden kostspieligen Prozess». 

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