Kaum Munition, hohe Verluste Die geplante Gegenoffensive der Ukraine lässt Putin zittern

Von Andreas Fischer

2.5.2023

USA – Russland hat bei Bachmut 100.000 Mann verloren

USA – Russland hat bei Bachmut 100.000 Mann verloren

STORY: Russland hat nach Darstellung der USA bei den Kämpfen in der Region um die Stadt Bachmut in den vergangenen fünf Monaten rund 100.000 Soldaten und Söldner durch Tod oder Verwundung verloren. Davon seien etwa 20.000 gefallen, darunter die Hälfte als Angehörige der Wagner-Gruppe, sagt der für nationale Sicherheit zuständige Sprecher des Weissen Hauses, John Kirby. Die Zahlen beruhten auf Schätzungen der US-Geheimdienste. Kirby bezeichnet die russische Offensive auf Bachmut als gescheitert. Das ukrainische Militär meldete unterdessen kleinere Erfolge in der Schlacht um Bachmut. Nach ukrainischen Gegenangriffen habe «der Feind» ein paar Stellungen in der Stadt aufgegeben, erklärte ein Armeeoffizier. Die Lage bleibe aber «ziemlich schwierig». Russland werfe ständig neue Einheiten in die Schlacht, darunter Fallschirmjäger und Söldner der Gruppe Wagner.

02.05.2023

Die angekündigte Offensive der Ukraine bereitet dem Kreml schlaflose Nächte. Während hektisch Schützengräben – sogar in Russland – anlegt werden, bleibt Munition für die eigenen Kämpfer Mangelware. 

Von Andreas Fischer

2.5.2023

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die geplante und lange angekündigte Frühjahrsoffensive der Ukraine steht kurz bevor.
  • Russland verstärkt in Erwartung wuchtiger Angriffe die Verteidigungsstellungen und hebt selbst auf dem eigenen Territorium Schützengräben aus.
  • Für eigene Entlastungsangriffe würde dem Kreml Munition fehlen. Zudem hat Russland seit Januar mehr als 100'000 Kämpfer allein in der Schlacht um Bachmut verloren.

Kiew lässt schonmal rhetorisch die Muskeln spielen: «Ich glaube, dass wir ab heute auf die Zielgerade einbiegen und sagen können: Ja, alles ist bereit.» Olexij Resnikow wird nicht müde zu betonen, dass die ukrainische Frühjahrsoffensive immer näher rückt. «Global gesehen, sind wir zu einem hohen Prozentsatz bereits fertig», sagte Kiews Verteidigungsminister vergangene Woche und doppelte am 1. Mai nach: Nun seien Vorbereitungen «in der Endphase».

Seit Wochen bereiten sich die ukrainischen Militärplaner und strategischen Führer auf die Offensive vor. Nicht nur die Verbündeten, westliche Militärexperten und Öffentlichkeit erwarten, dass die Ukraine zum Angriff ausholt. Auch Russland stellt sich augenscheinlich darauf ein.

Tiefere Gräben, illegale Mobilisierung

Der britische Geheimdienst berichtet, dass Putins Armee starke Verteidigungsanlagen errichtet: Nicht nur an der Front, sondern auch in den besetzten ukrainischen Gebieten und teils sogar tief im eigenen Land. So seien «besondere Anstrengungen unternommen worden, um die nördliche Grenze der besetzten Krim zu befestigen». Ausserdem seien Hunderte Kilometer Schützengräben auf dem russischen Territorium ausgehoben worden, darunter in den Gebieten Belgorod und Kursk.

Diese Abwehranlagen würden einerseits «die tiefe Besorgnis der russischen Führung unterstreichen, dass die Ukraine einen grossen Durchbruch erzielen könnte», schätzt London ein. Ein weiterer Beweggrund sei, dass Moskau damit das eigene Kriegsnarrativ unterstreichen wolle: Nämlich, dass Russland von der Nato angegriffen werde.

Aus der besetzten Hafenstadt Mariupol wird derweil von Vorbereitungen für eine illegale Mobilisierung berichtet. Die russischen Besatzer sollen sogenannte «Einberufungskomitees» eingerichtet haben, um die Zwangsmobilisierung von jungen ukrainischen Männern im Alter von 18 bis 27 Jahren vorzubereiten.

Moskau wolle «nach der Invasion der Region Donezk, der Zerstörung ihrer Städte und der Ermordung von Zehntausenden von Zivilisten nun die Einheimischen dazu zwingen, gegen ihre ukrainischen Landsleute zu kämpfen», wetterte Mariupols gewählter und von den Besatzern abgesetzter Bürgermeister Wadym Bojtschenko.

Prigoschin klagt über «stapelweise tausend Leichen»

Dass sich die Anzeichen für eine bevorstehende ukrainische Offensive verdichten, davon zeugen jüngste Angriffe auf russische Nachschublinien. Im westrussischen Gebiet Brjansk wurde am 1. Mai durch eine Sprengstoffattacke ein Güterzug zur Entgleisung gebracht. Er hatte Medienberichten zufolge Öl- und Holzprodukte geladen. Am Wochenende haben ukrainische Drohnen zudem ein Treibstofflager in der Hafenstadt Sewastopol auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim in Brand gesetzt.

Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnertruppe Wagner, erwartet den Beginn der ukrainischen Offensive bis zum 15. Mai. In einem Interview mit dem russischen Militärblogger Semjon Pegow klagt er offen über die schlechte Ausrüstung: «Jeden Tag haben wir stapelweise tausend Leichen, die wir in den Sarg packen und nach Hause schicken.»

Die US-Regierung schätzt, dass die russischen Streitkräfte allein bei den Kämpfen um Bachmut seit Januar 2023 100’000 Kämpfer verloren haben: Neben 20’000 Toten habe es auch 80’000 Verletzte gegeben, berichtet das Washingtoner «Institute for the Study of War» (ISW). Demnach seien die Hälfte der 20’000 Gefallenen Kämpfer der Gruppe Wagner.

Ein neuer General soll den Mangel verwalten

Laut Prigoschin seien die Verluste wegen der fehlenden Artilleriemunition fünfmal so hoch wie nötig. Die russische Rüstungsindustrie wird dem hohen Kriegsbedarf weiterhin nicht gerecht, schätzt auch der britische Geheimdienst ein. Putins Armee verfüge demnach schlicht nicht über genügend Munition, um bei ihren Offensiven entscheidende Fortschritte zu erzielen.

Ausserdem verschärfen sich deswegen die Streitigkeiten zwischen den regulären Streitkräften und Prigoschins Wagner-Söldnern. Letztere benötigen nach eigenen Angaben etwa 300 Tonnen Artilleriegranaten pro Tag, aber bekommen nur ein Drittel davon.

Im Kreml versucht man der Mangellage mit Personalentscheidungen entgegenzuwirken: Der bislang für die materielle und technische Versorgung der Armee zuständige stellvertretende Verteidigungsminister Michail Misinzew wurde kürzlich geschasst. Als Nachfolger soll nun Generaloberst Alexej Kusmenkow, bislang für die Nationalgarde zuständig, den Mangel besser verwalten.

Kiew wird noch eine Weile kein Nato-Mitglied

Ob ihm das gelingt, sei dahingestellt. Der neuerliche Wechsel beim Spitzenpersonal des Verteidigungsministeriums beeinträchtigt die militärischen Fähigkeiten, analysiert das ISW. Die häufigen Änderungen in der Führung haben demnach zu einer zunehmenden Fraktionierung des russischen Militärs und des organisierten Kommandostrukturen geführt.

Während sich auf russischer Seite die Hiobsbotschaften vor der mutmasslichen Offensive der Ukraine häufen, strahlt Kiew Zuversicht aus. Zwar wird sich der Wunsch von Präsident Wolodymyr Selenskyj kaum erfüllen, schon beim nächsten Nato-Gipfel im Juli zum Beitritt in die Militärallianz eingeladen zu werden. Aber sollte der Ukraine ein Erfolg im Krieg gegen Russland gelingen, könnte sie das schon bald ändern.

Die Offensive gegen Russland wolle die Ukraine jedenfalls auch ohne einige von westlichen Ländern zugesagte Waffen zu beginnen. «Ich hätte wirklich gerne auf alles warten wollen, was versprochen wurde», sagte Selenskyj am Wochenende. Aber die Termine passten einfach nicht zueinander.

Zuletzt hatte Kiew verkündet, acht Angriffsbrigaden, welche die neue ukrainische Offensivgarde bilden sollen, «vollständig gebildet» zu haben. Nun kommt es nur noch auf das Wetter an, damit diese nicht im Schlamm versinken.

Die ukrainische Armee bereitet sich hochmotiviert auf die geplant Frühjahrsoffensive gegen die russische Besatzungsmacht vor.
Die ukrainische Armee bereitet sich hochmotiviert auf die geplant Frühjahrsoffensive gegen die russische Besatzungsmacht vor.
Bild: KEYSTONE