Dauernde Atomschlag-Drohungen Putins Testament der Angst

Von Philipp Dahm

3.5.2022

Die Badger-Atomexplosion im Rahmen der Operation Upshot-Knothole am 18. April 1953 in Nevada.
Die Badger-Atomexplosion im Rahmen der Operation Upshot-Knothole am 18. April 1953 in Nevada.
Gemeinfrei

Wladimir Putin versteht es, die West-Öffentlichkeit vor sich herzutreiben: Wenn er nicht gerade selbst mit nuklearer Vergeltung droht, erledigen seine Kettenhunde im TV den Job, möglichst viel Angst zu verbreiten.

Von Philipp Dahm

3.5.2022

Eigentlich reden Militärs und Staatschefs ja nicht gerne über ihre neuen Waffen – vor allem, wenn sie sich noch in der Entwicklung befinden. Nicht so Wladimir Putin. Im März 2018 tritt der Präsident vor die russische Föderationsversammlung und stellt sechs neue «Super-Waffen» vor, die es in sich haben sollen.

Allen voran ist da die neue, extrem schwere Interkontinentalrakete RS-28 Sarmat, die von der Nato liebevoll Satan II genannt wird und zwischen 10 und 15 Sprengköpfe tragen kann. In rund 100 Kilometer Höhe kann die Satan II die Hyperschallwaffe Awangard starten. Der Flugkörper nimmt die Geschwindigkeit der Rakete mit – und legt noch ordentlich was drauf.

Ein englischsprachiges Video über die Sarmat alias «Putin's Armageddon Weapon».

Die Awangard erreicht je nach Quelle Geschwindigkeiten von Mach 20 bis 27, wird später jedoch auf Mach 14 bis 15 abgebremst. Sie kann Ausweich-Manöver fliegen und soll durch Abfangraketen kaum zu stoppen sein. Ausserdem stellt Putin im März 2018 Waffen wie den atomaren Poseidon-Torpedo vor, der tief und schnell tauchen kann, um vor einer Küste zu explodieren und eine tödliche Tsunami-Welle auszulösen.

«Bedrohung erschaffen»

«Um einer Bedrohung zu begegnen, müssen wir eine Bedrohung erschaffen», kommentiert Waleri Gerassimow, der Chef des Generalstabs der russischen Streitkräfte, die Vorstellung der «Super-Waffen», zu denen damals auch noch die schnellen Raketen Kinschal, Zirkon und die atomar angetriebene Burewestnik zählen. Putins Show am 1. März mag einerseits nach Innen ausgerichtet sein, denn 17 Tage später wurde der Präsident per Wahl im Amt bestätigt.

Doch andererseits ist die Vorstellung auch ein klares Signal an den Westen, dass ein Angriff auf Russland umgehend mit Vergeltung beantwortet würde – sofern Moskau mit seinen neuen Waffen nicht selbst zuerst zuschlägt. Das Drohen mit diesem Militärgerät und insbesondere mit den Atomwaffen hat beim Kreml-Chef System – so hält Putin nur fünf Tage vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine einen Test seines Atom-Arsenals ab.

Wladimir Putin (rechts) und sein weissrussischer Amtskollege Alexander Lukaschenko begleiten am 19. Februar Manöver der Atomstreitkräfte.
Wladimir Putin (rechts) und sein weissrussischer Amtskollege Alexander Lukaschenko begleiten am 19. Februar Manöver der Atomstreitkräfte.
EPA

Zusammen mit dem weissrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko übersieht Putin persönlich den Test von ballistischen und Hyperschall-Raketen und Marschflugkörpern, die vom Boden, von U-Booten und aus der Luft abgefeuert werden. Im TV werden Bilder gezeigt, in denen Waleri Gerassimow Putin sagt: «Das Hauptziel der Übung ist das Training der Aktionen der strategischen Offensivkräfte, die darauf abzielen, dem Gegner eine garantierte Niederlage einzubringen.»

«Sie wissen ja vom berühmten schwarzen Koffer»

Dass Putin und Lukaschenko tatsächlich dem ganzen Manöver beigewohnt haben, darf bezweifelt werden. Wichtiger ist da schon die Macht der Bilder, impliziert Kreml-Sprecher Dmitri Peskow: «Solche Test-Abschüsse sind ohne das Staatsoberhaupt unmöglich. Sie wissen ja vom berühmten schwarzen Koffer und den roten Knöpfen.» Das Manöver sei nur Teil des regulären Trainings und kein Zeichen für eine baldige Eskalation der Situation in der Ukraine, hiess es noch.

Fünf Tage später beginnt Putin seinen Angriffskrieg im Westen seines Landes – und durch die Blume warnt der russische Präsident den Westen vor einem Atomschlag. «An alle, die darüber nachdenken, von aussen einzugreifen: Wenn ihr das tut, werdet ihr Konsequenzen erfahren, die grösser als alles sind, was ihr in der Geschichte erlebt habt.» Für Dmitri Muratow ist das eine «direkte Drohung mit Atomkrieg».

Putin habe sich wie der «Herrscher des Planeten» aufgeführt, meint der «Nowaja Gaseta»-Chefreaktor und Friedensnobelpreisträger laut «BBC»: «Er hat mehrfach gesagt: Wenn es kein Russland gibt, wieso brauchen wir dann einen Planeten? Niemand hat dem Aufmerksamkeit geschenkt, aber das ist die Drohung: Wenn Russland nicht so behandelt wird, wie es will, dann wird alles zerstört.»

Lawrow sieht «beträchtliche Gefahr» für den GAU

Auch während der ersten Kriegswochen zieht der Kreml immer wieder den «Atomwaffen»-Joker – etwa zu Beginn der Kampagne, als er die Atomstreitkräfte in eine höhere Einsatzbereitschaft versetzt. Oder um Schweden und Finnland einzuschüchtern, damit die nicht der Nato beitreten: Mitte April droht Moskau damit, Atomwaffen in der Exklave Kaliningrad aufzustellen. Litauen beruhigt, die stünden dort schon lange, weshalb sich niemand aufregen müsse.

Kurz darauf testet Russland seine neue Sarmat – und lässt die Welt natürlich davon wissen: Im Herbst stünde die Riesen-Rakete zur Verfügung, verspricht Putin und versichert erneut, keine Abwehr könne seinen Todesengel abfangen. Und noch bevor der April endet, legt Aussenminister Sergej Lawrow nach: Das Risiko eines Atomkriegs sei nun «beträchtlich», sagt er am 25. April – auch wenn er das Thema nicht «künstlich aufblasen» wolle. Die Sache sei «ernst» und «darf nicht unterschätzt werden».

Auch im nationalen TV wird ein möglicher russischer Atom-Angriff immer häufiger thematisiert: Wenn man diesen Scharfmachern glaubt, steht der Dritte Weltkrieg bevor. Olga Skabejewa etwa moderiert auf dem Sender Rossiya-1 die beliebteste politische Talkshow des Landes. Die 37-Jährige äussert sich zum Treffen in Deutschland, zu dem die USA geladen hatten, um Militärhilfen zu koordinieren.

«Wir alle sterben eines Tages»

Skabejewa glaubt, es gebe bereits einen «Dritten Weltkrieg, nicht mehr nur eine Spezialoperation, mit 40 Staaten gegen uns. Die Repräsentanten dieser 40 Staaten sind der moderne, kollektive Hitler.» Am selben Tag läuft «Der Abend mit Wladimir Solowjow» doppelt der Gastgeber nach: «Wenn sie entscheiden, die Ukraine zu unterstützen, obwohl Sergej Lawrow gesagt hat, das könne zum Dritten Weltkrieg führen, wird sie nichts stoppen. Sie haben sich dafür entschieden, das Spiel gross zu machen. Das sind Bastarde ohne Moral.»

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Der Gedanke, «dass alles mit einem Atomschlag endet, ist für mich wahrscheinlicher als jede andere Lösung», sagt gar Margarita Simonjan. Die Chefin der Staatssenders «RT» kommentiert trocken: «Wir alle sterben eines Tages. Aber wir werden in den Himmel kommen, während die anderen einfach ins Gras beissen.» Und nun ist es erneut «60 Minuten», das den Westen schockt – weil in der Sendung gezeigt wird, wie Moskaus neue Raketen innert Minuten London, Paris oder Berlin von der Landkarte tilgen könnten.

«Eine Sarmat und das war's – die britischen Inseln gibt es nicht mehr», pöbelt Politiker Alexej Schurawljow, Vorsitzender der Rodina-Partei. In 106 Sekunden könne die neue Interkontinentalrakete von Kaliningrad zur deutschen Hauptstadt fliegen, in 200 zur französischen und in 202 zur britischen Hauptstadt. 

Atomkrieg keine «wahrscheinliche Folge»

Was ist davon zu halten? Ist es denkbar, dass Moskau wirklich nukleare Waffen einsetzt? Nach der neuen Doktrin wird Moskau das tun, wenn es glaubwürdige Daten gibt, dass Russland mit ballistischen Raketen angegriffen wird, wenn Massenvernichtungswaffen eingesetzt werden, wenn Russland so attackiert wird, dass der Abschuss eigener Raketen unmöglich wird oder wenn der Einsatz konventioneller Waffen die Existenz des Staates bedroht.

Doch Experten halten die Drohungen des Kreml für einen Bluff. «Ich glaube nicht, dass ein Atomkrieg eine wahrscheinliche Folge dieser Krise ist», sagt der Direktor des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri. Gleichzeitig räumt Dan Smith ein: «Wenn Atomwaffen existieren, dann gibt es aber leider natürlich immer diese kleine Möglichkeit.»

Und auch Dmytro Kuleba erkennt in Moskaus Reaktionen vor allem eins: Angstmacherei. «Russland hat die letzte Hoffnung verloren, die Welt davon abzuhalten, die Ukraine zu unterstützen. Deshalb das Gerede von der ‹echten› Gefahr eines Dritten Weltkrieges. Das bedeutet bloss, dass Moskau spürt, dass es in der Ukraine verliert.»

«Angst ist ein schlechter Ratgeber»

Und was ist mit taktischen Atomwaffen, die lokal begrenzt zum Einsatz kommen könnten? «Ich glaube nicht, dass Putin geneigt ist, taktische Atomwaffen zu benutzen, während er ukrainische Städte mit schweren Waffen übel zurichtet», meint Joshua Pollack vom Middlebury Institute of International Studies at Monterey.

Auch die erhöhte Alarmbereitschaft bei den russischen Raketen ficht Pollack nicht an. «Mehr Leute haben Dienst, aber wenn mehr Leute sollten einen nicht gross alarmieren.» Auch die USA machen sich wenig Sorgen. Man beobachte das russische Atom-Arsenal genau, zitiert «Reuters» einen anonymen Offiziellen: «Und wir schätzen es nicht so ein, dass es eine Gefahr des Gebrauchs von Atomwaffen gibt.» 

Der Zweck der Kreml'schen Nuklear-Rhetorik scheint vor allem eines zu sein: Angst schüren. Damit sich Bürger*innen im Westen vielleicht gegen Waffenlieferungen in die Ukraine aussprechen. Damit Nordeuropäer es nicht wagen, einem Verteidigungsbündnis beizutreten. Damit die breite europäische und amerikanische Öffentlichkeit aufhört, sich um das Schicksal der Ukraine zu kümmern.

Dabei wissen wir doch dank des früheren US-Präsidenten Andrew Jackson: «Angst ist ein schlechter Ratgeber.»