Grossbritannien Regieren um jeden Preis – Das Vermächtnis des Boris Johnson

SDA

7.7.2022 - 16:52

Boris Johnson, Premierminister von Großbritannien, ist als Chef seiner Konservativen Partei zurückgetreten. Foto: Frank Augstein/AP/dpa
Boris Johnson, Premierminister von Großbritannien, ist als Chef seiner Konservativen Partei zurückgetreten. Foto: Frank Augstein/AP/dpa
Keystone

Tagelang hat sich Boris Johnson vehement gegen seinen Sturz gewehrt, am Ende ist alles Kämpfen vergeblich. Als er am Donnerstag in der Londoner Downing Street vor die Presse tritt und seinen Rücktritt verkündet, gibt er sich dennoch ungebrochen.

«Es ist nun eindeutig der Wille der konservativen Parlamentsfraktion, dass es einen neuen Parteichef geben soll und damit auch einen neuen Premierminister», sagt Johnson. Er wolle aber noch so lange im Amt bleiben, bis ein Nachfolger gewählt sei.

Die Betonung auf den «Willen der Fraktion» dürfte Johnson nicht zufällig gewählt haben. Noch am Mittwoch, als grosse Teile der Regierung wegbrachen, liess Johnson ausrichten, er habe das Mandat von 14 Millionen Wählern bekommen, er habe noch viel zu tun für das Land.

«Johnson denkt eindeutig, dass Grossbritannien ein präsidiales System hat und nicht seine Partei, sondern er ein Mandat bei der Wahl 2019 gewonnen hat», sagte der Politologe Mark Garnett der Nachrichtenagentur DPA dazu. Noch am Mittwochabend gab es die Besorgnis, Johnson könnte – inspiriert vom früheren US-Präsidenten Donald Trump – eine Art Putschversuch wagen.

Dass es dazu nicht kam, könnte sich als schwacher Trost erweisen. Denn Johnson untergräbt das politische System in Grossbritannien nach Ansicht von Kritikern schon seit geraumer Zeit. Um seine Ziele zu erreichen, war dem 58-Jährigen kein Preis zu hoch. Wenn es seinem Machterhalt diente, war er bereit, Brücken zu Partnern wie der Europäischen Union sowie den Regionalregierungen in Schottland, Wales und Nordirland einzureissen. Garnett glaubt daher, dass ein Auseinanderbrechen des Landes wahrscheinlicher geworden ist.

Auch im Verfassungsgefüge war Johnson mit der Abrissbirne unterwegs. Ob bei der Justiz, den Rechten des Parlaments, der Demonstrationsfreiheit oder der Gültigkeit internationaler Verträge – Johnson versuchte, die Macht der Exekutive auszubauen. Die Tatsache, dass das Land keine geschriebene Verfassung hat, sondern sich weitgehend auf Konventionen und deren Einhaltung stützt, kam ihm dabei entgegen.

Zudem zeigte er keine Hemmungen, sich über Verhaltensstandards hinwegzusetzen: Ehrlichkeit, Integrität, Transparenz und Rechenschaftspflicht – Johnson fühlte sich, abgesehen von Lippenbekenntnissen, keinem dieser Werte verpflichtet.

Die charakterlichen Mängel des blonden Politikers waren bekannt. Dass ihm die Konservativen im Sommer 2019 dennoch die Schlüssel zu der berühmten schwarzen Tür mit der Nummer 10 in der Downing Street aushändigten, dürfte mit seinem politischen Talent zusammenhängen.

Boris Johnson galt als politisches Wunderkind. Ihm gelang es, Menschen aller Gesellschaftsschichten zu erreichen und sich besonders in der Frage des EU-Austritts als Volkstribun zu inszenieren, der gegen abgehobene Eliten und Brüsseler Bürokraten kämpft.

Dabei ist Alexander Boris de Pfeffel Johnson alles andere als ein Mann des Volkes. Seiner Schwester zufolge war sein erster Berufswunsch, «Weltkönig» zu werden. Er ging auf das Elite-Internat Eton und studierte in Oxford, wo er dem «Bullingdon-Club» angehörte, einer für ihre Dekadenz berüchtigten Studentenverbindung.

Johnsons Aufstieg ist eng mit dem Brexit verbunden. Ganz Opportunist, entschied er sich 2016 erst wenige Monate vor dem Referendum, auf welche Seite er sich schlagen wollte – und wurde dann schnell zum Gesicht der Brexit-Kampagne. Trotzdem gelang es ihm nicht, direkt an die Spitze der Regierung zu kommen, stattdessen bekam Theresa May den Posten. Erst nachdem er Mays Bemühungen um einen geordneten Brexit erfolgreich torpediert und die Premierministerin zum Rücktritt gezwungen hatte, trat er im Juli 2019 ihre Nachfolge an.

Mit dem Versprechen, die Brexit-Querelen zu beenden, gewann er mit überwältigender Mehrheit die Parlamentswahl im Dezember 2019. Die Konsequenzen seines zuvor mit der EU geschlossenen Brexit-Deals zu Nordirland stritt er jedoch stets ab und versuchte, sich aus den Verpflichtungen wieder herauszuwinden.

Seine Bilanz als Regierungschef ist mehr als durchwachsen. Die Corona-Pandemie ignorierte er zunächst, dann redete er sie klein. Langes Zögern, bevor er sich zu den Lockdowns durchringen konnte, und die Überweisung Tausender Menschen ohne Tests von Krankenhäusern in Pflegeheime dürfte zig Leben gekostet haben.

Was Johnson damals rettete, war die erfolgreiche Impfkampagne, die er als Wettlauf zwischen der EU und Grossbritannien darstellte. Ohne den Brexit, so seine Argumentation, wäre das Impfwunder unmöglich gewesen. In Wirklichkeit verschaffte er Grossbritannien einen Vorteil, indem Impfstoffe zwar aus der EU importiert wurden, aber nicht ausgeführt werden durften. Johnson hatte es mal wieder allen gezeigt. Für ihn galten die Naturgesetze der Politik scheinbar nicht. Alles war verziehen. So schien es.

Das änderte sich, als nach und nach Enthüllungen über verbotene Lockdown-Partys mit teils exzessivem Alkoholkonsum im Regierungssitz bekannt wurden. Während die Menschen nicht einmal ihre sterbenden Angehörigen besuchen durften, floss in der Downing Street Alkohol in Strömen. Johnson stritt erst alles ab. Als das nicht mehr ging, behauptete er, nichts von den Partys gewusst zu haben. Als sich dann herausstellte, dass er selbst mitgefeiert hatte, zog er sich auf die Position zurück, er habe nicht gemerkt, dass es sich um Partys handelte. Die Polizei sah das anders und verhängte einen Strafbefehl.

Einen Hoffnungsschimmer bot Johnson der Krieg in der Ukraine. Seine bedingungslose Unterstützung für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj fand im In- und Ausland Anerkennung. Doch retten konnte es Johnson am Ende nicht. Ob sich die Konservativen mit dem einstigen Zugpferd langfristig einen Gefallen getan haben, darf bezweifelt werden. «Johnson hat seine Partei wohl in eine langfristige Krise gestürzt», sagt Politologe Garnett.

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