Mitbringsel zum Neujahrsfest Reisewelle in China dürfte dem Virus nochmals Schub geben

Von Andreas Landwehr, dpa/uri

21.1.2023 - 17:03

China rechnet mit neuer Corona-Welle

China rechnet mit neuer Corona-Welle

Nach dem Ende der Null-Covid-Strategie machen sich zum Neujahrsfest Millionen Menschen auf, um ihre Familien zu besuchen. Am Wochenende hatte China seine offiziellen Corona-Todeszahlen massiv nach oben korrigiert.

20.01.2023

Nach dem Ende der Null-Covid-Politik in China reisen zum Neujahrsfest am Sonntag erstmals wieder Hunderte Millionen Chinesen in ihre Heimat. Die Infektionswelle wird damit sogar noch heftiger als bislang erwartet.

21.1.2023 - 17:03

«Drei Jahre war ich schon nicht mehr zu Hause», sagt Herr Wang, der zum chinesischen Neujahrsfest erstmals wieder seine Eltern in der Heimat besucht. Die beiden sind über 70 Jahre alt, leben in Jingzhou, zweieinhalb Stunden entfernt von der zentralchinesischen Metropole Wuhan, wo Ende 2019 die weltweit ersten Infektionen mit dem Corona-Virus entdeckt worden waren.

Dass er bei seiner Reise das Virus mitbringen und Eltern oder Verwandte infizieren könnte, befürchtet er nicht. «Sie sind jetzt auch schon alle krank gewesen», sagt Wang, der in der Hauptstadt mit seiner Frau einen Kramladen betreibt. «Für ältere Menschen ist es echt gefährlich, aber sie haben es gut überstanden.»

Passagiere machen sich am 18. Januar 2023 am Bahnhof im chinesischen Shenzhen mit dem Zug auf. Die Reisewelle zum chinesischen Neujahrsfest wird die Corona-Welle im Land noch mehr befeuern. 
Passagiere machen sich am 18. Januar 2023 am Bahnhof im chinesischen Shenzhen mit dem Zug auf. Die Reisewelle zum chinesischen Neujahrsfest wird die Corona-Welle im Land noch mehr befeuern. 
Bild: Keystone

Wie Wang reisen Hunderte Millionen Chinesen zum chinesischen Neujahrsfest erstmals wieder in ihre Heimatorte. Es ist traditionell die grösste jährliche Völkerwanderung. Wegen der Lockdowns und anderer Einschränkungen durch die Null-Covid-Strategie hatte dieser familiäre Höhepunkt des Jahres für viele Chinesen seit 2020 ausfallen müssen.

Jetzt gelangt das Virus in ländliche Gebiete

In diesem Jahr wird nach dem traditionellen Mondkalender in der Nacht zum Sonntag (MEZ: Samstag 17:00 Uhr) das Jahr des Hasen begrüsst. Chinesische Wahrsager erwarten ein Jahr mit Harmonie und Konfliktlösung. Alle Hoffnungen richten sich darauf, dass die Pandemie irgendwie überwunden werden kann.

Nach der abrupten Kehrtwende von Null-Toleranz zur völligen Lockerung Anfang Dezember sind jetzt alle Beschränkungen weggefallen, sodass die Chinesen wieder frei reisen können. Der Nachholbedarf ist gross: Zwei Milliarden einzelne Passagierreisen werden über die 40-tägige Hauptreisezeit vorhergesagt – das sind rund 70 Prozent des Reisevolumens im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie.

Von den bisher betroffenen Metropolen wie Peking, Shanghai und Guangzhou wird das Virus in kleine und mittelgrosse Städte und ländliche Gebiete in den inländischen Regionen getragen. Die Reisewelle ist einer der Gründe, warum sich das Virus im bevölkerungsreichsten Land der Welt gerade noch viel schneller als ursprünglich erwartet ausbreitet.

Xi Jinping zeigt sich beunruhigt

«Die Geschwindigkeit, mit der der Höhepunkt erreicht und zur Normalität zurückgekehrt wird, war vergleichsweise schnell – auf eine Weise, die unsere Erwartungen übertrifft», berichtet Vizepremier Liu He. Hatten Experten wegen der Reisewelle zunächst nach dem Neujahrsfest einen zweiten Höhepunkt erwartet, formt sich der laufende Ausbruch jetzt zu einer einzigen grossen Welle, wie das in London ansässige Forschungsinstitut Airfinity berichtet.

«Wir erwarten jetzt, eine grössere, länger andauernde Welle, mit der die Infektionen einen höheren Spitzenwert erreichen», sagt Matt Linley von Airfinity. Nach den Städten sind jetzt medizinisch weniger gut versorgte Regionen betroffen, wo besonders viele alte Menschen leben. In den rückständigen, ländlichen Regionen kümmern sie sich meist um die Enkelkinder, während die Eltern als Wanderarbeiter in den Städten das Geld verdienen und heimschicken.

Selbst Staats- und Parteichef Xi Jinping zeigt sich beunruhigt. «Ich bin besorgt um die ländlichen Gegenden und die Bauern», sagte der Präsident in einer Rede vor dem Neujahrsfest. «Die medizinischen Bedingungen auf dem Land sind relativ schlecht. Vorbeugung und Kontrolle sind schwierig und mühsam.»

Dramatische Lage wird von der Regierung heruntergespielt

In China sind besonders alte Menschen nicht ausreichend geimpft. 25 Millionen sollen völlig ungeschützt sein. Ein Viertel der über 60-Jährigen ist laut Staatsmedien nicht geboostert. Oft sind die Impfungen viel zu lange her, um richtig wirken zu können. Moderne ausländische Impfstoffe lässt China aus politischen Gründen nicht zu.

Einige inländische Provinzen wie Hubei und Hunan könnten jetzt eine Nachfrage nach Intensivbetten erleben, die ihre Kapazitäten um das Sechsfache übersteigt, wie Airfinity-Direktor Linley warnt. «Unsere Vorhersagen rechnen mit einer bedeutenden Belastung für Chinas Gesundheitswesen in den nächsten zwei Wochen.» Er hält es für wahrscheinlich, «dass viele behandelbare Patienten wegen überfüllter Krankenhäuser und Mangels an Versorgung sterben».

Die Lage ist dramatisch, aber die Regierung spielt die Schwere der Ansteckungswelle herunter. Nachdem fast drei Jahre eindringlich vor den Gefahren von Covid-19 gewarnt worden war, wird jetzt am liebsten nur noch von einer «Corona-Erkältung» gesprochen. Damit bei all den Toten und der Kritik am planlosen Ende von Null-Covid die Stimmung nicht kippt, will die Zensur gegen «falsche Informationen» vorgehen, «um zu verhindern, dass düstere Emotionen wiedergegeben werden».

Seit Anfang Dezember soll es nach Berechnungen des Datenverarbeiters Airfinity sogar schon mehr als 600'000 Tote gegeben haben. In dieser oder der nächsten Woche könnte nach den Modellrechnungen der Höhepunkt der Infektionswelle mit 4,8 Millionen Neuinfektionen pro Tag erreicht sein. Die Zahl der Toten dürfte demnach noch während der Neujahrsfeiertage nächste Woche auf den höchsten Stand von 36'000 am Tag steigen – deutlich mehr als bisher mit 25'000 vorhergesagt.

Von Andreas Landwehr, dpa/uri