Sündenböcke vor Gericht Russische Forscher müssen Putins Hyperschall-Märchen ausbaden

Von Philipp Dahm

27.5.2023

Putins ganzer Stolz: Eine Mig-31 zeigt am Tag des Sieges am 9. Mai 2018 die brandneue Kinschal.
Putins ganzer Stolz: Eine Mig-31 zeigt am Tag des Sieges am 9. Mai 2018 die brandneue Kinschal.
AP

Die Kinschal wurde von Wladimir Putin als unaufhaltbare «Superwaffe» angepriesen. In der Ukraine zeigt die Rakete aber, dass sie nicht hält, was er versprochen hat. Der Kreml macht aber Wissenschaftler verantwortlich.

Von Philipp Dahm

27.5.2023

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Wladimir Putin hat 2018 die Kinschal-Rakete als eine von sechs neuen «Superwaffen» vorgestellt.
  • Der Kreml behauptet, die Hyperschall-Rakete fliege nicht nur schneller als Mach 5, sondern sei dabei auch noch manövrierter.
  • In der Ukraine zeigt sich am März 2022, dass die Kinschal wohl doch nicht so potent ist, wie von Putin behauptet.
  • Offenbar um das Gesicht zu wahren, verhaftet Moskau vier führende Wissenschaftler, von denen einer im Gefängnis stirbt.
  • Kolleg*innen beklagen in einem offenen Brief, sie wüssten nicht mehr, wie sie ihre Arbeit machen sollen.

Die Rede, die Wladimir Putin hält, ist denkwürdig. Am 1. März 2018 – 17 Tage vor der Präsidentschaftswahl, präsentiert der St. Petersburger in Moskau bei seiner Ansprache zur Lage der Nation sechs neue «Superwaffen», die den Westen schockieren.

Da wäre die RS-28 Sarmat alias Satan 2, eine schwere Interkontinental-Rakete. Sie kann mit dem Sprengkopf Awansgard bestückt werden: Der Stratosphären-Gleitflugkörper erreicht bis zu Mach 20 und ist unaufhaltbar, so Putin. Der Poseidon, ein Torpedo, der per Atom-Sprengkopf Tsunamis auftürmen kann, und eine nuklear angetriebene Rakete namens Burewestnik lassen das Publikum staunen.

Acht Meter lange Rakete: eine Mig-31 im Februar 2022 mit einer Kinschal unter dem Bauch auf dem Militär-Flugplatz Hmeimim in Syrien.
Acht Meter lange Rakete: eine Mig-31 im Februar 2022 mit einer Kinschal unter dem Bauch auf dem Militär-Flugplatz Hmeimim in Syrien.
AP

Doch auch für den konventionellen Krieg will sich der Kreml rüsten: Die Raketen Zirkon und Kinschal sollen russische Angriffe unaufhaltsam machen. Die Flugkörper fliegen mit Hyperschall, also mehr als Mach 5, oder noch schneller und sollen trotz dieser Geschwindigkeit im Flug navigieren können, sagt Putin. Sie wären damit für bestehende Luftabwehr-Systeme nicht zu stoppen.

Ist die «Superwaffe» gar nicht so super?

Dabei ist Hyperschall gar nichts Neues. Ballistische Raketen fliegen schon seit den Anfängen so schnell: Schon die V2 der Nazis hat das geschafft. Doch die Flugbahn dieser Raketen ist vorhersehbar – weil Zirkon und Kinschal angeblich aber auch im Endanflug noch manövrieren können, sollen sie für Abfang-Raketen nicht berechenbar sein. Laut dem Kreml hat die Kinschal überdies auch noch eine Reichweite von 2000 Kilometern.

Eingeführt wurde die Kinschal bereits Ende 2017: Der erste Einsatz findet im März 2022 statt, als Russland ein unterirdisches Munitionsdepot im Gebiet Iwano-Frankiwsk angreift. Am Folgetag wird eine Kinschal abgefeuert, um ein Treibstoffdepot in Kostjantyniwka zu zerstören. Das macht Experten stutzig: Warum benutzt Moskau die neue «Superwaffe», die pro Stück 10 Millionen Dollar kosten soll, für solche Ziele?

Der erste Verdacht: Putin will die Nato abschrecken, damit die nicht in den Krieg eingreift. Der zweite Verdacht: Für die Fähigkeiten, die Moskau seiner Waffe andichtet, gibt es gar keine Beweise. Ist die Kinschal vielleicht gar nicht so tödlich wie befürchtet? Der Nimbus der Rakete bekommt Risse.

Erste Forscher verhaftet

«Business-Insider» titelt: «Warum die Hyperschall-Rakete nicht so fortschrittlich ist wie es tönt» – und erklärt, dass die Waffe auf der ballistischen Rakete Iskander-M beruht, die 1988 vorgestellt wurde. Die Kinschal sei einfach eine Version, die von einer Mig-31 oder Tu-22 aus der Luft abgeschossen werden. Die Manövrierbarkeit bezweifelt das Magazin.

Die Tu-22M kann neben der Mig-31 die Kinschal tragen, die etwa 4,3 Tonnen wiegt.
Die Tu-22M kann neben der Mig-31 die Kinschal tragen, die etwa 4,3 Tonnen wiegt.
WikiCpommons/Dmitry Terekhov

Wenige Wochen später greift der Kreml durch. Am 28. Juni 2022 wird Anatoli Maslow verhaftet. Der damals 75-jährige Physiker arbeitet im Christianowitsch-Institut für angewandte und theoretische Mechanik in Nowosibirsk am Hyperschall-Antrieb – und soll Geheimnisse an China verraten haben.

Zwei Tage später wird unter demselben Vorwurf der Physiker Dmitry Kolker in Nowosibirsk festgenommen. Der 54-Jährige hat Bauchspeicheldrüsen-Krebs: Er stirbt am 2. Juli im Gefängnis in Moskau. Die Kinschal bewirkt unterdessen wenig im Krieg in der Ukraine – dafür muss anscheinend ein weiterer Wissenschaftler bezahlen.

Kluger Kopf: Dmitry Kolker war herausragend auf dem Gebiet der Quantenoptik.
Kluger Kopf: Dmitry Kolker war herausragend auf dem Gebiet der Quantenoptik.
Dmitry Kolker

Erster Kinschal-Abschuss durch Patriot

Am 5. August berichtet die staatliche Nachrichtenagentur «Tass», dass jetzt auch der Direktor des Christianowitsch-Instituts verhaftet worden und die Einrichtung durchsucht worden sei. Dem Hyperschall-Experten Alexander Schipljuk wie seinem Kollegen Maslow wird Hochverrat vorgeworfen.

Der endgültige Absturz der Kinschal erfolgt am 4. Mai 2023. Eine Mig-31K feuert von russischem Gebiet eine Kinschal, was übrigens auf Russisch «Dolch» bedeutet, ab. Sie soll eine Patriot-Batterie in Kiew zerstören, berichtet die «New York Times» – doch stattdessen schiesst das amerikanische Luftabwehr-System den Angreifer ab. Das hätte in Moskaus Augen niemals passieren dürfen.

Doch der Kreml räumt nicht ein, was längst offensichtlich ist. Stattdessen wird wieder ein Forscher vom Christianowitsch-Institut unter Hausarrest gestellt: Walery Zwegintsew ist 78 Jahre alt. Der Aerodynamiker ist eine der Schlüsselfiguren in Russlands Hyperschall-Programm. Nun werden die Kolleg*innen aktiv: Sie wagen es, einen offenen Brief zu schreiben.

«Verstehen nicht mehr, wie wir unsere Arbeit machen sollen»

«Wir sorgen uns nicht nur um das Schicksal unserer Kollegen», schreiben sie. «Wir verstehen auch nicht mehr, wie wir unsere Arbeit machen sollen.» Jeder Artikel oder Bericht könne dazu führen, wegen Hochverrats angeklagt zu werden. «Es ist praktisch unmöglich für unser Institut, zu arbeiten.» Den Staat ficht das aber nicht an: Der Prozess gegen Maslow beginnt kommende Woche in St. Petersburg. 

Russland ist bisher führend, was die Hyperschall-Technik angeht. Und nun stellt Putins Regime die Köpfe vor Gericht, die für diesen Erfolg verantwortlich sind. Der Grund ist anscheinend, dass Putin nicht sein Gesicht verlieren will, weil die Kinschal nicht das hält, was er versprochen hat.

Die Wissenschaftler müssen offenbar als Sündenböcke hinhalten. Dabei ist die Kinschal 2017 vom Militär getestet worden, das wissen muss, was die Rakete kann. Der Abschuss der «Superwaffe« durch die Patriot ist auch nicht so blamabel, wie man meinen könnte: Das System wird stetig verbessert und hat nichts mehr mit der Patriot gemein, die in den 90ern im Zweiten Golfkrieg nur wenige irakische Scud-Rakete abfangen konnte.

Wladimir Putin ist das offensichtlich egal. Er erweist der Forschung, aber auch dem Militär damit einen Bärendienst.