Rückkehr nach Cherson Wo die Russen abziehen, hinterlassen sie tödliche Fallen

Von Inna Varenytsia und Jamey Keaten, AP/uri

13.12.2022 - 11:44

Ukraine: Suche nach «Kollaborateuren» in Cherson

Ukraine: Suche nach «Kollaborateuren» in Cherson

Nach dem Abzug der russischen Truppen aus Cherson hat in der südukrainischen Stadt die Suche nach mutmasslichen Unterstützern der russischen Besatzer begonnen. Dabei können die Behörden auf die Unterstützung der Bewohner zählen.

13.12.2022

Nach dem Abzug des russischen Militärs kämpfen sich die Einwohner der südukrainischen Stadt Cherson zurück in die Normalität – und stossen dabei immer wieder auf heimtückische Sprengfallen. 

DPA, Von Inna Varenytsia und Jamey Keaten, AP/uri

In der südukrainischen Stadt versuchen die Bewohner sich wieder ein Stück Normalität zu verschaffen. Doch die Gefahren sind so vielfältig wie böswillig – auch nach dem Abzug des russischen Militärs.

Da ist die Handgranate, die ins Waschmittelfach einer Waschmaschine in einem Haus in Cherson gesteckt wurde. Oder das Strassenschild, das so ausgerichtet wurde, dass es Passanten in ein tödliches Minenfeld leitete.

Da ist die Polizeistation, die den russischen Besatzern angeblich als Folterkammer diente, aber derart mit Sprengfallen gespickt ist, dass die ukrainischen Minenräumteams nicht einmal anfangen können, dort nach Beweisen zu suchen.

Ein ukrainischer Soldat patrouilliert am 8. Dezember 2022 unter der schwer beschädigten Antoniwkabrücke in Cherson.
Ein ukrainischer Soldat patrouilliert am 8. Dezember 2022 unter der schwer beschädigten Antoniwkabrücke in Cherson.
Bild: Keystone

Auf den Tag genau einen Monat war es am Sonntag her, dass die russischen Truppen sich nach acht Monaten Besatzung aus der ukrainischen Stadt Cherson und ihrer Umgebung zurückzogen. In der Ukraine löste es landesweit Jubel aus.

Doch das Leben in der südlich gelegenen Stadt ist noch immer weit von der Normalität entfernt. Denn die abziehenden Russen hinterliessen hässliche Überraschungen unterschiedlichster Couleur.

Die Stadt steht weiter unter schwerem Beschuss

Zudem steht die Stadt weiter unter Artilleriebeschuss, der von neuen Positionen entlang des Dnipro ausgeht. Nach Angaben der regionalen Verwaltung sind im vergangenen Monat in Cherson weiter Dutzende Menschen zu Tode gekommen – darunter auch ein Kind – oder verletzt worden.

Mal funktioniert die Stromversorgung – und mal nicht. Das Wasser fliesst zumeist wieder, auch Innenräume lassen sich inzwischen wieder beheizen – allerdings nur in 70 bis 80 Prozent Chersons, nachdem die Russen im November ein grosses Heizwerk sprengten, das einen Grossteil der Stadt versorgte. Die Behörden und die Bürger sehen sich durch die Probleme und Gefahren täglich vor Aufgaben gestellt.

Eingesammelte Minen auf einem Feld bei Cherson. 
Eingesammelte Minen auf einem Feld bei Cherson. 
Bild: Keystone

Allein am Freitag wurde nach Angaben des lokalen Ablegers des Rundfunksenders Suspilne die Region 68 Mal unter Mörser-, Artillerie-, Panzer- und Raketenbeschuss genommen. Im November liessen demnach etwa 5500 Menschen Cherson an Bord von Evakuierungszügen hinter sich. Räumungsteams machten 190 Kilometer Strassen wieder zugänglich.

Als vor einem Monat Hilfslieferungen in Lastwagen eintrafen, versammelten sich kriegsmüde und verzweifelte Einwohner auf dem zentralen Freiheitsplatz, um sie in Empfang zu nehmen.

Nach einem russischen Angriff auf den Platz, als dort viele Menschen vor einer Bank Schlange standen, ist derartiger Auflauf seltener geworden. Hilfe wird nun bevorzugt an kleineren, diskreteren Verteilpunkten ausgegeben.

Wie die Schweiz hilft

Die Schweiz hilft der Ukraine bei der Minenräumung. Sie finanziere das Internationale Zentrum für Humanitäre Minenräumung in Genf (GICHD), das die ukrainischen Behörden in Fragen der Minenräumung unterstütze, teilt eine Mediensprecherin des Eidgenössischen Aussendepartements (EDA) auf Anfrage von blue News mit. Ausserdem unterstütze die Schweiz Aufklärungskampagnen gegen die Gefahren von Minen in der Ukraine durch einen Beitrag von rund 100'000 Franken an die Schweizerische Stiftung für Minenräumung (FSD).

Angaben aus der Region zufolge sind etwa 80 Prozent der vor dem Krieg etwa 320'000 Bewohner der Stadt beim Einzug der russischen Streitkräfte, nur Tage nach der Invasion vom 24. Februar, geflüchtet. Mit nur 60'000 bis 70'000 Verbliebenen wirkt Cherson nun wie eine Geisterstadt. Die, die noch da sind, versuchen, ihre Häuser und Wohnungen möglichst selten zu verlassen.

«Das Leben kehrt zur Normalität zurück, aber es gibt eine Menge Beschuss», sagte Walentyna Kytajska, die im nahe gelegenen Dorf Tschornobajwka lebt. Die 56-Jährige beklagte den nächtlichen Kanonendonner sowie die Ungewissheit, wo die russischen Geschosse einschlagen.

Normalität – das ist ein relativer Begriff für ein Land im Krieg. Es ist nicht abzusehen, ob das, was Russland als «militärische Spezialoperation» bezeichnet, in Tagen, Wochen, Monaten oder gar Jahren enden wird. In der Zwischenzeit gehen aber die Bemühungen, Ordnung wiederherzustellen und zurückgelassene Minen zu räumen, weiter – unter harten, winterlichen Bedingungen.

«Die Schwierigkeiten sind ziemlich simpel, es sind die Wetterbedingungen», sagte ein Mitglied einer ukrainischen Kampfmittelräumeinheit, das den Kriegsnamen «Technik» führt. Ein Teil der Ausrüstung funktioniere im Frost nicht, «weil der Boden wie Beton gefroren ist.»

Ein Schild leitete Menschen ins Minenfeld

Zusätzliche Teams könnten helfen, die hohe Arbeitslast zu schultern, sagte er. In dem einen Monat seit dem Abzug des russischen Militärs «haben wir mehrere Tonnen Minen gefunden und beseitigt», sagte Technik. Dabei habe sich seine Einheit nur auf etwa zehn Quadratkilometer konzentriert.

In einem Viertel war eine Hauptstrasse mit einem Schild blockiert, das vor Minen dort warnte und Passanten dazu aufforderte, eine kleinere Strasse als Umweg zu nutzen.

Tatsächlich war es diese Strasse, die vermint war und einige Minenräumer das Leben kostete. Ein paar Wochen später starben dort auch vier Polizisten, darunter der Polizeichef der nördlichen Stadt Tschernihiw, der zur Unterstützung nach Cherson gekommen war.

Der generell schlechte Zustand der auch wettergeschädigten Strassen half den sich zurückziehenden Russen dabei, ihre tödlichen Sprengfallen zu verbergen, etwa in Schlaglöchern. Teils schnitten sie auch den Asphalt auf, um dort Minen unterzubringen.

Handgranate im Fach der Waschmaschine

Die ukrainischen Kampfmittelräumteams arbeiten sich von Haus zu Haus vor. So wollen sie sicherstellen, dass die Besitzer oder früheren Bewohner einigermassen gefahrlos zurückkehren können. Experten sagen, bei einem einzelnen Haus könne dies bis zu drei Tage dauern.

Ein Team fand in einem Haus eine Handgranate, die so in einer Waschmaschine untergebracht war, dass das Öffnen des Waschmittelfachs eine Explosion ausgelöst hätte.

Russische Soldaten haben mittels einer Handgranate aus einem Einweg-Kaffeebecher eine Sprengfalle gemacht. 
Russische Soldaten haben mittels einer Handgranate aus einem Einweg-Kaffeebecher eine Sprengfalle gemacht. 
Bild: Keystone

Die Hauptpolizeiwache der Stadt, wo Gefangene von den Russen Berichten zufolge gefoltert wurden, ist mit Explosivstoffen gespickt. Als sich Minenräumteams ihren Weg ins Innere bahnen wollten, flog ein Teil des Gebäudes in die Luft. Die Bemühungen wurden daraufhin vorerst auf Eis gelegt.

Auch langfristige Fragen stellen sich: Cherson liegt in einer wichtigen Landwirtschaftsregion. Die Felder sind so stark vermint, dass 30 Prozent des Ackerlandes im Frühjahr wohl nicht bepflanzt werden dürften, wie Technik, der Minenräumer, glaubt.