Ukrainer in der Schweiz «Wir wollen nie wieder in einer Diktatur leben»

Von Philipp Dahm

4.2.2022

US-Truppen auf dem Weg nach Osteuropa

US-Truppen auf dem Weg nach Osteuropa

Am Freitag sollten auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein Fallschirmjäger der US-Armee zwischenlanden. Ihr Ziel ist Osteuropa. Die USA haben kürzlich angekündigt rund 3.000 zusätzliche Soldaten nach Polen und Rumänien zu entsenden. Die Truppenbewegung ist eine Reaktion auf über 100.000 russische Soldaten, die in den vergangen Wochen an der Grenze zur Ukraine stationiert wurden. Im polnischen Rzeszów wurde am Freitag ein Flugzeug der US-Armee mit Soldaten und militärischer Ausrüstung an Bord gesichtet. Nach Angaben der polnischen Regierung wird in dem Land mit rund 1.700 US-Soldaten gerechnet. In der Ukraine-Krise ist die Haltung der deutschen Regierung und der EU, dass vor allem diplomatischer Dialog zur Lösung der Konflikts eingesetzt werden soll. Bundeskanzler Olaf Scholz will Mitte Februar nach Russland zu Präsident Wladimir Putin reisen – und einen Tag zuvor für Gespräche nach Kiew.

04.02.2022

Alle reden über die Ukraine, aber wie sehen die dort Betroffenen eigentlich die Lage? Pawlo Dlaboha vom Ukrainischen Verein in der Schweiz weiss mehr, gibt Auskunft und kritisiert Putin, die Medien und Deutschland.

Von Philipp Dahm

4.2.2022

In den letzten Wochen haben sich die Nachrichten aus der Ukraine überschlagen. Joe Biden warnte schon, eine russische Invasion stehe «unmittelbar» bevor, doch nun hat der US-Präsident seine Aussage zurückgenommen. Übertreibt es der Westen mit seinen Warnungen? Wie denken die Menschen vor Ort eigentlich darüber?

Einer, der es wissen muss, ist Pawlo Dlaboha vom Ukrainischen Verein in der Schweiz: «Ich kenne das Land und seine Mentalität sehr gut», erklärt der Dirigent, der seit 1967 in der Schweiz lebt und 13 Jahre in der Ukraine gearbeitet hat, bevor er unsere Fragen beantwortet

Was hören Sie aus der Ukraine, wenn Sie telefonieren? Wie ist die Stimmung?

Es ist erstaunlich: Ich bin viel nervöser als meine Verwandten und Freunde. Ich laufe die Wände rauf und runter, und sie haben eine Gelassenheit, die ich eigentlich kaum verstehen kann. Sie ist frappant.

Woran liegt das?

Das Land ist bereits seit acht Jahren im Krieg: seit der Krim-Annexion 2014 und dem Überfall auf den Donbass. Die Leute leben damit, dass jeden zweiten Tag eine Soldatin oder ein Soldat an der Front stirbt.

Nicht nur Soldaten, auch Zivilisten leben in der Ukraine gefährlich. Dieser 69-Jährige wird am 31. Januar in Switlodarsk in der Donezk-Region ins Spital eingeliefert, nachdem er beim Angeln angeschossen worden ist.
Nicht nur Soldaten, auch Zivilisten leben in der Ukraine gefährlich. Dieser 69-Jährige wird am 31. Januar in Switlodarsk in der Donezk-Region ins Spital eingeliefert, nachdem er beim Angeln angeschossen worden ist.
AP

Wie ist die wirtschaftliche Lage – es soll eine hohe Inflation geben?

Gut, Inflation herrscht derzeit ja fast überall. Ich glaube, in England ist sie gerade höher als in der Ukraine. Aber wenn sich ein Land in so einer Situation befindet, ist das Investitionsklima natürlich nicht rosig – das ist klar. Vor der jetzigen Panik war das Land wirtschaftlich sehr gut drauf. Aber es gehört auch zur Kriegsführung, ein Land ökonomisch zu schwächen. Das ist Teil von Putins Taktik.

Macht der Westen das Problem grösser, als es ist?

Ich bin gerade süchtig nach Informationen. Ich spreche fünf Sprachen und verfolge die ukrainische und die Weltpresse sehr genau. Die westlichen Medien bauschen das Problem unglaublich auf. Die Ukrainer sind da viel ruhiger. Ich glaube, Selenskij hat gebremst, damit keiner verrückt wird: Die Situation ist natürlich angespannt, aber man darf es nicht übertreiben.

Wladimir Klitschko ist gerade der Reserve beigetreten: Ist das ein Trend?

Die Ukrainer haben seit dem Zweiten Weltkrieg Erfahrung mit dem Untergrundkampf: Sie wissen, wie das funktioniert. Seit der Maidan-Revolution 2013 und dem Februar 2014, als die Leute abgeknallt worden sind wie Kaninchen, ist das noch stärker geworden. Heute finden Sie in allen Städten der Ukraine hochprofessionelle Menschen, die mal aus der IT-Branche und mal aus der Hochschule kommen und den Guerillakampf trainieren. In dieser Situation sagen sie sich: Wir haben nichts zu verlieren, denn wir können und wollen nie wieder in einer Diktatur leben.

Kadetten der urkainischen Luftwaffe zünden in Charkiw im Osten des Landes am 3. Februar Kerzen an. In der Kirche wird der an jenem Tag der Kriegstoten gedacht.
Kadetten der urkainischen Luftwaffe zünden in Charkiw im Osten des Landes am 3. Februar Kerzen an. In der Kirche wird der an jenem Tag der Kriegstoten gedacht.

Ist die Ukraine zwischen einem russlandfreundlichen Südosten und Europa-orientierten Nordwesten gespalten?

Ich halte das für eine alte Mär, die längst keine Gültigkeit mehr hat oder vielleicht auch nie eine hatte. Natürlich ist die Ukraine ein zweisprachiges Land. Im Osten dominiert zwar die russische Sprache, aber diese Leute sind dennoch Ukrainer. Putin schürt diese Spaltung, indem er sagt, die russische Sprache werde unterdrückt. Und das stimmt einfach nicht: Die Leute reden, wie sie reden. Sie wechseln von einer Sprache zur anderen, so wie man hier zum Beispiel in Fribourg oder Biel von Deutsch auf Französisch und umgekehrt wechselt. Die ukrainische Identität hängt nicht von der Sprache ab.

Gibt es viele Verbindungen zwischen Russen und Ukrainern?

Ja, natürlich. Das Ziel der Sowjetunion war, alles so zu vermischen, dass keine Region nach Unabhängigkeit strebt. Man wollte den Homo sovieticus schaffen. Das hat nicht geklappt. Als ich 1990 – noch vor der Unabhängigkeit – in Kiew war, habe ich ein Meer blau-gelber Fahnen gesehen. Das Nationalgefühl war vergraben und es wurde auch vom KGB unterdrückt, aber es war immer da.

Was muss man wissen, um zu verstehen, was in der Ukraine geschieht?

Erstens: Der Krieg dauert schon acht Jahre. Zweitens: Es gibt mehr als 14'000 Tote – das ist kein Konflikt, sondern ein Krieg. Und drittens: Es ist kein Bürgerkrieg, sondern ein Krieg, der von russischen Agenten und Separatisten im Donbass geschürt wird. Wichtig ist ausserdem, dass es 1,5 Millionen interne Flüchtlinge aus dem Gebiet gibt, die in der ganzen Ukraine verstreut sind.

Geflüchtet: Eine Frau und ihre Kinder haben im März 2015 Zuflucht in Slowjansk in der Donezk-Region gefunden.
Geflüchtet: Eine Frau und ihre Kinder haben im März 2015 Zuflucht in Slowjansk in der Donezk-Region gefunden.
EPA

Was ist ihre grösste Sorge?

Wenn Russland tatsächlich erneut eine Invasion startet, wird es kein regionaler Krieg sein, sondern auf ganz Europa überschwappen – und ich habe das Gefühl, dass die Politiker im Westen das langsam verstehen. Die Ukraine hat 45 Millionen Einwohner und ist das grösste Binnenland Europas: Wenn es Krieg geben sollte, würde Polen von Flüchtlingen überschwemmt.

Während Resteuropa die Ukraine militärisch unterstützt, hält sich Deutschland zurück. Fällt das auf?

Als Frau Baerbock gesagt hat, Deutschland würde 5000 Helme schicken, dachte ich nur: Ich freue mich sehr auf die 10'000 Paar Wollsocken und Zahnbürsten. Mich schmerzt das unheimlich, was sich die Deutschen da erlauben: Ich finde es peinlich und auch moralisch verwerflich.

In dem Sinne, dass Deutschland eine historische Verantwortung hätte, die Ukraine zu schützen?

Als die Nazis die Ukraine überfallen haben, sind sechs Millionen Ukrainer ermordet worden, 1,2 Millionen davon waren ukrainische Juden. Was viele nicht wissen: Belarus und die Ukrainer haben noch mehr als Russland unter der Besatzung gelitten. Es ist sehr, sehr traurig, was da abgeht.

Nord Stream 2 macht Kiew Sorgen: hier die Gas-Empfangsstation der Ostseepipeline in Lubmin in Deutschland.
Nord Stream 2 macht Kiew Sorgen: hier die Gas-Empfangsstation der Ostseepipeline in Lubmin in Deutschland.
KEYSTONE

Was bedeutet die Pipeline Nord Stream 2 für die Ukraine?

Wenn die in Betrieb geht, kann Putin angreifen, weil das russische Gas dann nicht mehr durch die Ukraine läuft. Würde er es jetzt tun, würde er seine Energie-Geschäfte riskieren. Wenn Nord Stream 2 angezapft wird, wird die Ukraine zum Freiwild.

Beim Bau wurde argumentiert, man wolle Transitgebühren sparen.

Der Bau der Pipeline kostet allerdings auch Milliarden. Und der hätte ohne deutsche Zustimmung nicht begonnen. Was mich beschäftigt: Deutschland hätte wissen müssen, dass die Ukraine zum Freiwild wird, wenn die Pipeline kommt. Ich glaube, dass Deutschlands Ansehen dadurch Schaden nimmt.