Über 100 Kriegstage, über 100 RedenSo mobilisiert Selenskyj die Ukraine
AP / tchs
4.6.2022
Jede Nacht hat sich der ukrainische Präsident im Krieg an seine Landsleute gewandt. Der Mann, der vom Schauspieler zum Präsidenten wurde, hat dabei der Welt seinen Mut und seinen Charakter gezeigt.
AP / tchs
04.06.2022, 23:55
05.06.2022, 09:15
AP / tchs
So wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj es erzählt, rechnete niemand mit dem Überleben seines Landes, als Russland seinen Angriffskrieg begann. Weltenlenker rieten ihm, zu fliehen. «Aber sie kannten uns nicht», sagte er in eine nächtlichen Videoansprache im April, als der Krieg seinen 50. Tag erreichte. «Und sie wussten nicht, wie mutig die Ukrainer sind, wie sehr wir die Freiheit schätzen.»
Er hätte über sich selbst sprechen können. Niemand wusste, wie ein 44-jähriger Mann, der sich von der Welt des Entertainment in die Präsidentschaft katapultierte, auf eine Invasion der riesigen russischen Armee reagieren würde.
Mit schauspielgeschulter Stimme
Seine Antwort war eindringlich - und öffentlich. Selenskyj hat sein Land bei dessen unerwartet erbittertem Widerstand angeführt. Jede Nacht mobilisiert er die Ukrainer mit einer Videoansprache in sozialen Netzwerken für den Kampf - eine für jeden Tag des Krieges. So erinnert er daran, dass er nicht geflohen ist, dass die Ukraine überlebt hat.
Seine schauspielgeschulte Stimme kann beruhigend sein, ein tiefes, vertrauliches - beinahe - Flüstern, während er direkt in die Kamera schaut. Oder energisch, anschwellend in moralischer Entrüstung, während er die jüngsten russischen Gräueltaten verurteilt und darauf pocht, dass die Verantwortlichen dafür bestraft werden.
Während die Tage und Wochen dahin gingen, wuchs in seinem Gesicht ein dunkler Bart. Er hat sein jungenhaftes Aussehen verloren. Die sichtbare Schlaflosigkeit während des Vormarschs der russischen Truppen auf die Hauptstadt Kiew wurde durch eine neue Entschlossenheit ersetzt, als die Offensive ins Stocken geriet.
Seit Beginn des Krieges hat er sich in verschiedenen Schattierungen von Armeegrün gekleidet. Meist erschien er in einem einfachen T-Shirt. Der Eindruck den er hinterlässt, ist eindeutig: frisch aus dem Kampf zu kommen und gleich dorthin zurückzukehren.
Unermüdlicher Kommunikator
Als unermüdlicher und bewandter Kommunikator hat Selenskyj zu den Vereinten Nationen, dem britischen Parlament, dem US-Kongress und etwa zwei Dutzend Parlamenten weltweit gesprochen. Auch an die Filmfestspiele von Cannes wandte er sich und an die Grammy Awards in den USA. Selten hat ein Mann ohne Krawatte zu so vielen VIPs gesprochen. Er hat auch Journalisten Interviews gegeben - und eine Pressekonferenz in der Kiewer U-Bahn abgehalten.
Doch seine nächtliche Videoansprache war sein bevorzugter Kanal, um seine Mitbürger zu informieren und inspirieren. Oft beginnt er mit einer überschwänglichen Begrüssung der Ukrainer als «freies Volk eines mutigen Landes» oder «das unbesiegbare Volk unseres grossartigen Landes». Stets endet er mit einem trotzigen «Ruhm der Ukraine.»
Er berichtet ihnen von den Staats- und Regierungschefs, mit denen er am Tag gesprochen hat, von den Anstrengungen, diese dazu zu bewegen, der Ukraine mehr und bessere Waffen zu schicken und immer strengere Sanktionen gegen Russland zu verhängen.
Er spricht über die Wut und den Schmerz seiner Landsleute, über die Verwüstung des Landes, die ungezählten Toten. «Mein Herz bricht wegen dem, was Russland unserem Volk antut», sagte er am 16. März, nachdem russische Bomben auf ein Theater in Mariupol fielen und Hunderte töteten, die dort Schutz gesucht hatten.
Er verbeugt sich vor ihrem Mut und erklärt, er werde nie müde, all jenen zu danken, die für die Zukunft der Ukraine kämpften. Dass das Land nicht binnen Tagen wie von Russland erwartet fiel, sagte er am 14. April, liege daran, dass Millionen Ukrainer «die wichtigste Entscheidung ihres Lebens getroffen haben - zu kämpfen.»
Er versuchte auch, ein russisches Publikum zu erreichen. Am 1. April wechselte er vom Ukrainischen ins Russische, um an Russen zu appellieren, ihre Söhne nicht in den Krieg zu schicken. «Wir brauchen hier keine neuen Toten», sagte er. «Kümmern Sie sich um ihre Kinder, damit sie keine Schurken werden, schicken Sie sie nicht zur Armee. Tun sie alles, das sie können, um sie am Leben zu halten. Zu Hause.»
«Frieden, Sieg, Ukraine. Ruhm der Ukraine!»
In seiner Videoansprache vergangenen Freitag zu 100 Kriegstagen nannte Selenskyj viele Worte und Zahlen mit Verbindung zum Krieg. Aber «es gibt drei Worte, für die wir nach acht Jahren Hundert Tage gekämpft haben: Frieden, Sieg, Ukraine. Ruhm der Ukraine!»
Der russische Präsident Wladimir Putin rechtfertigt den Krieg damit, dass er die Ukraine vor «Drogensüchtigen und Neonazis» in Selenskyjs Regierung rette. Er hat Selenskyjs Appelle für ein Treffen der beiden ignoriert.
Im Juni 2019, kurz nachdem der Schauspieler Selenskyj zum Präsidenten gewählt worden war, war Putin gefragt worden, warum er dem Wahlsieger nicht gratuliert habe. Herablassend erklärte Putin: «Nun, es ist eine Sache, jemanden zu spielen, und eine andere, jemand zu sein.» Und: «Wichtig ist, den Mut und den Charakter zu haben, Verantwortung zu übernehmen. Er hat seinen Charakter noch nicht gezeigt.» 100 Nächte lang hat Selenskyj seinen Charakter den Ukrainern und der Welt nun gezeigt. Und Putin.