Demokratie in GefahrSorgenvolles Warten in Tunesien
AP/toko
3.8.2021 - 19:59
Seit einer Woche regiert Tunesiens Präsident Saied das Land per Dekret. Einen Plan für die Zukunft hat er noch nicht vorgelegt, aber das scheint nicht alle Bürger zu beunruhigen.
DPA, AP/toko
03.08.2021, 19:59
03.08.2021, 20:07
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Das Parlament suspendiert, der Ministerpräsident entlassen, die Exekutive unter seiner Kontrolle: Mehr als eine Woche ist vergangen, seit Präsident Kais Saied die Macht in Tunesien an sich gerissen hat. Die Mehrheit der Bürger steht laut Umfragen hinter ihm, aber sie wollen nun Entscheidungen sehen. Der Präsident hat jedoch nur wenige Hinweise geliefert, wie er weiter vorgehen will. Auf Dauer wird das nicht reichen.
In der vergangenen Woche ernannte Saied einen neuen Innenminister, der für die Sicherheit zuständig ist – die erste Neubesetzung unter den Dutzenden von Spitzenbeamten, die er entlassen hatte. Ausserdem versprach er, die Korruption zu bekämpfen und gegen korrupte Geschäftsleute vorzugehen, forderte Händler, Grosshändler und Apotheken auf, die Preise zu senken, und verlangte am Samstag von den Banken, die Zinssätze zu senken. Er verbot Versammlungen von mehr als drei Personen und verhängte eine Ausgangssperre von 22.00 Uhr bis 5.00 Uhr.
Das alles stimmt den Buchhalter Zied Amar vorsichtig optimistisch. «Ich denke, dass die Entscheidung von Kais Saied richtig war, auch wenn wir die Anschuldigungen berücksichtigen», sagt der 36-Jährige, der am heissen Wochenende mit seiner Frau und seinem Baby am Strand von La Marsa sitzt. «Aber wir brauchen eine Entscheidung, die den Menschen die Angst nimmt und sie Hoffnung schöpfen lässt – Hoffnung auf eine Person, die ihre Rechte verteidigen wird.» Die Bürger hätten Angst, dass ihnen die Freiheit geraubt werden könnte.
Der Präsident übernahm die Macht nach einem Tag landesweiter Proteste gegen die sich verschlechternde soziale und wirtschaftliche Lage des nordafrikanischen Landes, die durch die grassierende Corona-Pandemie noch verstärkt wurde. Seitdem regiert er per Dekret.
Tunesien löste Arabischen Frühling aus
Die Verbündeten im Nahen Osten und in Europa und die Vereinigten Staaten sorgen sich nun um die Zukunft Tunesiens, des Landes, das vor einem Jahrzehnt den Arabischen Frühling auslöste und seinen langjährigen autokratischen Führer verjagte. Die Revolution griff auf andere Länder über, aber Tunesien war bisher die einzige Erfolgsgeschichte. Dort wurde ein demokratisches System eingeführt, das allerdings nicht gefestigt ist.
Die Menschen im Land scheinen weniger sorgenvoll, zumindest macht es den Eindruck, dass die meisten, die während eines Ganges durch die Hauptstadt anzutreffen sind, dem Präsidenten Vertrauen schenken. «Ich stehe zu Kais Saied. Gott sei Dank», erklärt Jamel Diwen, ein Strassenreiniger. So überzeugt sind nicht alle. Hitzige Diskussionen werden in Cafés und Bars geführt, wo sich Menschen alte Reden von Saied auf ihren Handys anschauen.
Wejden Ben Alaya, eine 26-jährige Vertriebsmitarbeiterin, die in einer Strandbar sitzt, sagt, sie habe das Gefühl, dass ein Grossteil der Unterstützung für Saied emotional sei. «Wegen des sozialen Dilemmas und der wirtschaftlichen Probleme des Landes ... hatten die Menschen die Nase voll. Kais Saied hat sich als Retter präsentiert, und es ist nur logisch, dass sich die Menschen emotional daran orientieren», erklärt sie.
USA drängen auf schnelles Handeln
Ben Alaya sagt, sie habe bei der Präsidentschaftswahl 2019 für Saied, einen Unbekannten ohne politische Erfahrung, gestimmt, weil er unter den schlechten Optionen die beste zu sein schien. Jetzt, fühle sie sich mit seinen Entscheidungen nicht wohl. «Ich weiss nicht, wohin das führen wird, da er nicht von einem klaren System oder einer klaren Einheit wie einer Partei oder einer Bewegung unterstützt wird», erklärt sie. «Ich denke, das ist besorgniserregend.»
Die Vereinigten Staaten scheinen zu einer ähnlichen Einschätzung gekommen zu sein und drängen auf schnelles, aber kluges Handeln. Der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan sprach am Samstag mit dem tunesischen Staatschef und übermittelte Präsident Joe Bidens nachdrückliche Unterstützung für das Volk und die tunesische Demokratie, wie die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates, Emily Horne, in einer Pressemitteilung des Weissen Hauses erklärte.
Allerdings hiess es auch, das Telefonat habe sich auf die dringende Notwendigkeit konzentriert, dass die tunesische Führung eine rasche Rückkehr auf den demokratischen Weg skizziere. Das erfordere die rasche Bildung einer neuen Regierung unter der Führung eines fähigen Ministerpräsidenten, sagte Sullivan demzufolge. Nur so könne die tunesische Wirtschaft stabilisiert, die Pandemie bekämpft und eine rasche Rückkehr des gewählten Parlaments sichergestellt werden.
Rachid Ghannouchi, Vorsitzender der Ennahda, der grössten Partei im Parlament, und Präsident der suspendierten Parlaments, bezeichnete Saieds Vorgehen als Staatsstreich und sagte vergangene Woche in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AP, seine Partei werde den Präsidenten unter Druck setzen, «um die Rückkehr zu einem demokratischen System zu fordern».
Die Ennahda wurde für die weithin wahrgenommene Unfähigkeit der Regierung verantwortlich gemacht, und Ghannouchi räumte ein, dass die Partei, wie andere auch, eine interne Überprüfung durchführen müsse.